Das Geheimnis… Ein Nachruf auf das in paranoiden Gesellschaften Verlorene

Der Absturz der Germanwings-Maschine und seine Umstände hat Forderungen nach der Abschaffung der Schweigepflicht nach sich gezogen. Doch Ulrich B Wagner macht das mehr Angst als das sonst bestehende Risiko. Denn wohin soll man sich mit seinem Geheimnis noch wenden, wenn man stets die Enthüllung fürchten muss? Ein Geheimnis ist privat, intim – und manchmal muss man ein Geheimnis anvertrauen können, um nicht daran zu zerbrechen. Manchmal zerbricht man trotzdem an einem Geheimnis. Und viele andere mit einem.

In seiner heutigen Freitagskolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET DAS WORT ZUM FREITAG“ befasst sich Ulrich B Wagner mit der Frage, was unsere paranoide Gesellschaft dem Geheimnis antun will – und welche Folgen das haben kann.

Das Geheimnis – das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten – ist eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit.
Gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil viele seiner Inhalte bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen könnten.

Georg Simmel, Das Geheimnis, eine sozialpsychologische Skizze

Es liegt im Wesen des Begriffs der Paranoia, dass sie sich auf eine für absolut wahr gehaltene Grundannahme stützt, die, da axiomatisch, den Beweis ihrer Wahrheit nicht erbringen kann und auch nicht zu erbringen braucht. Aus dieser Grundannahme werden dann streng logische Ableitungen gemacht und damit eine Wirklichkeit erschaffen, in der alle Fehlschläge immer nur in den Ableitungen, niemals aber in der Prämisse gesucht werden.

Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit

Was wäre wenn…

Es gibt Dinge auf dieser Welt, die machen einen sprachlos. Sie erschüttern, machen ratlos, ängstlich und lassen einen mit einem bitteren Geschmack der Verzweiflung und Hilflosigkeit zurück….

Was wäre passiert? Was wenn und aber? Hätte die Tragödie wirklich vermieden werden können. Hätte der Pilot Andreas L. wirklich an diesem Tag umkehren können. Erst dann? Früher vielleicht irgendwo, an einem Ort, an dem er sich es wirklich getraut hätte, über sich, sein Geheimnis und seine Dämonen zu sprechen?

Ich für meine Person stelle an dieser Stelle niemanden in den Fokus meines Interesses und versuche auf irgendwelche perverse Art und Weise den Täter zum eigentlichen Opfer zu machen. Nein, dies hat er mit Sicherheit nicht verdient. Auch wenn… Lassen wir es dabei. Mein Mitgefühl gehört immer noch den Angehörigen der Opfer und den professionellen Vielfliegern, die sich jeden Tag eingedenk dieser menschlichen Katastrophe immer wieder aufs Neue in die fliegenden Kisten hineinsetzen müssen.

Die „totale“ Sicherheit

Es ist und bleibt schrecklich! Und doch… Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nicht doch noch verwerflicher finde, als diese „feige“ Tat, eines psychisch, kranken und verzweifelten Mannes? Dieses reflexartige Auftauchen der selbst ernannten oder von staatlichen Stellen dazu auserkorenen Sicherheitspropheten, der vermeintlichen Sachverständigen mit ihren angeblichen, gut gemeinten Vorschlägen zur totalen Sicherheit. Ich hasse dieses Wort „total“ allein aus den Schrecknissen der jüngsten deutschen Geschichte heraus und es ist dann meines Erachtens nach auch völlig egal, ob das angebliche Heilversprechen nun absolute oder totale Sicherheit heißt. Es bleibt reine Spiegelfechterei.

Unsicherheit und Angst muss man akzeptieren

Der Absturz der Germanwings-Maschine macht Angst. Mit Sicherheit sogar. Der totale, absolute Überwachungsstaat mit seinen vermeintlichen, vorgeschobenen und verlogenen Sicherheitsversprechen aus purem Überwachungs- und Kontrollwahn leider noch tausendmal mehr. Es sind Auswüchse einer paranoiden, kontrollsüchtigen Gesellschaft, die alles und jeden berechnen und durchsichtig machen möchte. Es ist krank. Mindestens genauso krank wie die Tat an sich. Nehmen Sie beispielsweise nur den Leserbrief eines Psychoanalytikerpaares aus dem beschaulichen Bayernländle an das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, in dem sie wortwörtlich folgende Erklärung des Unfassbaren vorschlagen: Vielleicht liegen die Wurzeln des Unglücks darin, dass bei der Pilotenausbildung nur das Kognitive geprüft und das Unbewusste außer Acht gelassen wird.

Die paranoide Gesellschaft tötet das Geheimnis

Dieser schreckliche Aufklärungs- und Vermeidungsfuror, dieser blinde Aktionismus mit dem angeblich solche Taten zukünftig nicht mehr passieren können, machen mir schreckliche Angst.

Denn wir sind mittlerweile mit Gewissheit am letzten Heiligtum einer offenen, toleranten und liberalen Gesellschaft angelangt: Wir töten das Recht auf das Geheimnis!

Das Geheimnis besitzt etwas Sakrales – auch wenn zwischen dem bösartigen Verschweigen, Verbergen und dem überlebensnotwendigen Schutz- und Vertrauensraum des gesicherten Geheimnisses, in dem und auch nur in dem die Wahrheit offen gesagt werden kann, nur ein schmaler Grat liegt.

Droge Transparenz

Der Wunsch nach voller Transparenz gleicht einer Droge. Die am Ende des Tages einer ganz und gar jedem selbst inhärenten und ganz persönlichen Angst entspringt: der Angst vor uns selbst. Vor uns, die wir uns selbst immer wieder aufs Neues ein Geheimnis sind.

Auch wir können nie mit letzter Gewissheit sagen, was wir als nächstes tun, geschweige denn anrichten werden. Es ist eine unumstößliche Tatsache, der wir uns schlicht und einfach stellen müssen – auch im Hinblick der Unausweichlichkeit der Kontingenz.

Wir müssen lernen, es schlicht und einfach zu akzeptieren: Das Geheimnis.

Das Geheimnis ist ein Rückzugsraum

Können Sie mit Gewissheit sagen, was alles passieren wird, wenn wir die Schweigepflicht für Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte und Priester (Beichtgeheimnis) abschaffen? Wo gehen die Menschen dann hin mit ihren Nöten, mit ihrer Scham, ihrer Angst vor sich und der Krankheit. Liegt vielleicht im Rückzug in sich selbst eine noch viel größere Gefahr?

Ich will so nicht leben. Ich habe Angst vor der totalen Überwachung. Facebook, Google & Co. können mich mal. Denn ich habe es immer noch selbst in der Hand, was ich den Tratschmäulern und verlängerten Armen der amerikanischen, deutschen, und sonstigen Geheimdienste anvertraue. Sollen sie doch ihre Algorithmen darüber fahren lassen, so lange bis es ihnen hochkommt oder auch nicht.

Mir kommt es schon allein hoch, wenn ich höre, wie wir darüber reden die Schweigepflicht aufzuheben. Ich kann, um es wieder einmal mit Max Liebermann auszudrücken, gar nicht soviel fressen wie ich kotzen möchte.

Ein Geheimnis muss man anvertrauen können

Ich möchte nämlich weiterhin, falls es einmal nötig sein sollte, mit meiner Scham, meinen Schuldgefühlen oder meinem sonstigen Leid zu den Personen meines Vertrauens gehen und mich „entlasten“ in dem ich ohne Angst vor dem Sich-Lächerlich-Machen, der totalen Selbstpreisgabe und Veräußerung reden und Hilfe einfordern kann. Die geschlossene Tür des Arztes, des Anwalts, des Psychologen und Priesters, dient nicht dem Verbergen, sondern dem Offenlegen vor sich und einem neutralen Dritten, den man aufsucht in der Not, um Hilfe zu finden. Nicht um einen Komplizen zu finden, der mir beim Verbergen und Täuschen helfen soll.

An all das sollten wir denken, wenn wir nun nach der Abschaffung des Geheimnisses rufen! Wenn wir das Geheimnis töten, töten wir uns, das Leben, die Liebe, die Wahrheit und die tägliche Suche nach ihr.

Das ist die vermeintliche Sicherheit nicht wert! Mir auf jeden Fall nicht!

Ihr
Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner

Ulrich Wagner
QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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