Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen mehr Fehler zu machen.
ich würde nicht so perfekt sein wollen.
ich würde mich mehr entspannen.
ich wäre ein bißchen verrückter, als ich gewesen bin.
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
ich würde nicht so gesund leben.
ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen…
Jorge Louis Borghes
Das Prinzip des Messers Schneide: Die Böhse Onkelz Triologie Teil II
Lassen Sie mich heute ein Hoch auf Ockhams Rasiermesser aussprechen.
Es aus der Vergessenheit wieder in unser Bewusstsein bringen.
Es uns wieder nutzbar machen in einer Zeit, in der das Neue – aber auch das ehemals Gewusste – nicht eines natürlichen Weges wiedergeboren, Neues nicht geboren und beides nicht zu einem neuen Bild von Wirklichkeit versöhnt werden kann.
Die in Zeiten der Renaissance von Wilhelm von Ockham (1288-1347) begründete lex parisominnae, das Sparsamkeitsprinzip oder schlicht Ockhams Rasiermesser, besagt, dass alle unnötigen, bisher als unverzichtbar gegoltenen Erklärungen eines Phänomens einfach und auf einmal entfernt werden können. So ist dann auch von allen möglichen Theorien und Methoden immer auch die Einfachste zu bevorzugen.
Trenne dich von Ballast, Verdunklungen und Erschwernissen, aus Angst nicht losgelassenem Alten und Überflüssigen: seien es nun ehemals notwendige Krücken, Hilfsmittel. Von Vorurteilen sowieso, von Bildern und Vorbildern, zerschneide sie, sortiere sie neu und setze sie auf das Wesentliche konzentriert zu einem Neuen zusammen.
Messers Gewalt als Lösung unserer Probleme?
Per se kann alles auf dieser Welt eine todbringende Waffe oder aber auch ein Werkzeug, ein Heilmittel oder ein Droge sein. Es liegt unserer Hand. In der Hand des einzelnen Menschen, ob er nun das eine oder das Andere daraus macht. Selbst ein Buch kann in der Hand eines Unwissenden todbringende Kräfte entfalten, doch davon später vielleicht mehr.
So kann mit Gewissheit auch der Ritt auf Messers Schneide Zerstörung, Tod und Vernichtung bedeuten – oder aber auch die Neu- und/oder Wiedergeburt gegen alle Widerstände Realität werden lassen, und Befreiung vom Unnötigen, neue Leichtigkeit und einen neuen Blick auf die Welt und das eigene Leben bedeuten.
Es liegt im Tun eines jeden von uns, was er aus den Herausforderungen unserer Zeit und dem mit ihnen inhärent verbundenen Ritt auf Messers Schneide macht. Sein Tun, seine Beweglichkeit, seine Konzentration und Achtsamkeit werden letztendlich darüber entscheiden, ob er Balance hält, oder ob der bei Verlust derselbigen sich das in Sekundenbruchteilen in ein Beil verwandelnde Messer nicht nur vom Zukünftigen abtrennt, sondern in aller Konsequenz vom Leben trennt.
Einem Leben, das mit dem ersten Erhaschen des Lichts der Welt nicht nur Veränderung bedeutet, sondern auch der Courage bedarf, sich diese für sich selbst nutzbar zu machen; einem Leben, das den Stillstand mit dem Tod bestraft.
Was lässt uns zögern?
Was macht uns blind?
Warum suchen wir Flucht in einem Alten, das so, wie wir es schildern, auch niemals war?
Warum fürchten wir nicht nur die Geburt des Neuen, sondern auch die Renaissance, die mögliche Wiedergeburt eines Alten im Neuen, das same same but different zu einem neuen Bild versöhnt?
Lassen Sie mich eine Parallele auftun, die vieles an Antworten in sich zu tragen scheint.
Leben durch des Messers Gewalt
Im vergangenen Jahr 2016 erblickten rund 272.000 Neugeborene in Deutschland zwar nicht auf, jedoch mit des Messers Schneide das Licht und Dunkel dieser Welt. Was im Vergleich zu 1991 einen prozentualen Anstieg der Sectio-Geburten von 15,3 auf 36,7 Prozent im Gegensatz zur (natürlichen) vaginalen Geburt bedeutet.
Kein menschliches, kein tierisches Leben ohne Geburt.
Es muss heraus, alles Neue muss heraus aus dem Dunkel, der Abgeschiedenheit und der Unmündigkeit. Es muss gepresst, gedrückt, gezogen, gesaugt werden – durch Kraft, durch Schmerzen, Verlust und manchmal leider auch durch den Tod der alten, sicheren Heimstätte, des Opfers der Gebärenden. Ein Teil des bereits Bestehenden, der Welt, die lange schon bereits vor ihm existierte und damit Teil der Wirklichkeit der ihn Empfangenden.
So wird es dann begrüßt, verflucht, freudig erwartet oder doch voll Angst und Verdammung des Schmerzes als Übel in der Welt willkommen geheißen. Wer weiß?
Dass der Kaiserschnitt in den meisten Fällen die Morbidität und Mortalität senkt, steht außer Frage, wobei sich die Zahl der geplanten und ungeplanten Kaiserschnitte statistisch gesehen auch die Waage halten. Doch es muss auch mit Sicherheit festgehalten werden, dass bei uns in Deutschland weit mehr Sectio-Geburten vorgenommen werden als nötig. Allerdings bevorzugen auch Ärzte mittlerweile gerne diesen auf den ersten Blick sauberen und problemlosen Weg unter Vermeidung des Natürlichen, inter faeces et urinas nascimur, der Öffnung des Lebens zwischen Scheiße und Urin. So wird auf der einen Seite das Nicht-Ertragen-Können des Natürlichen, des Echten, vermeintlich Dreckigen und mit Gewissheit im Augenblick der Geburt auch extrem Schmerzhaften, aus Angst und Ekel gemieden. Was jedoch als weitaus beängstigender erscheint – und hier sind sich sogar die Pro- und die Contra-Fraktionen des Schneidens einig – ist die seit fast zehn Jahren exorbitant zunehmende Klagefreudigkeit im Kreißsaal. Die Klagefreudigkeit der Eltern nimmt zu, sagt die Hebamme. Ärzte machen lieber früher als später einen Kaiserschnitt, damit sie nicht verklagt werden, glaubt auch die im von mir für diese Kolumne herbeigezogenen SPIEGEL-Artikel zitierte Forscherin: Es wird heute einfach nicht mehr toleriert, dass ein Kind schlecht geboren wird, weiß der Arzt, da wird man sofort verklagt.
An Messers Schneide fügt sich alles.
Eine Zeitenwende steht uns bevor. Nicht eine kleine, nicht eine große, eine epochale. Nichts bleibt, nichts wird so sein wie bisher; auch wenn das Alte nicht verschwindet, so wird es doch ein Bild ergeben, sich zu einem Neuen zusammenfügen.
Nicht ein Bereich des Lebens, nicht hier und dort, einer jeder wird und ist im Grund schon betroffen.
Das Neue scheint nicht nur am Horizont. Es ist das Messer auf dem wir reiten.
Veränderung ist da und sie wird es bleiben. Sie wird noch mehr als noch vor Jahren, auch selbst wie heute, Teil des täglichen Lebens sein und die, die heute noch das Wagnis der Veränderung nicht anzunehmen bereit sind – aus Verlustängsten, Mut- und Willenlosigkeit, und es gibt beileibe viel zu viele unter uns – werden hinweggefegt oder werden für lange Zeit die Welt verdunkeln und über uns und unsere Enkelkinder ein neues, nicht ausdenkbares Mittelalter verhängen.
Es liegt an allen, nicht nur dies zu begreifen, sondern einzusehen, dass nur Bildung, Wissen und ein neues Verständnis von Lernen eine Chance bieten, diesem Schicksal zu entgehen.
Lernen, immer wieder aufs Neue zu lernen: Bereit zu sein, die Bilder im Kopf nicht bloß zu tauschen, sondern im kontinuierlichen Rauschen alter und neuer Bilder immer ein Neues zu erschaffen.
Nicht Faktenwissen sich anzueignen, sondern die Fähigkeit selbst zu lernen, wahrzunehmen und sich einen eigenen Willen zu erarbeiten – einen Willen, der auf Wissen über sich und die Welt beruht, das begriffen und nicht auswendig gelernt wurde. Einem Wissen, der den Willen des Anderen respektiert und einzig im Willen des Anderen seine Grenzen findet. Einem Verständnis von Kooperation, das nicht auf leeren Worten fußt, sondern auf der Wertschätzung des Anderen.
Aber auch des Wissens um die Begrenztheit des eigenen Wissens, seiner eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die nur im Wechsel- und Zusammenspiel mit denen der Anderen ein zukünftiges Leben möglich machen. Wir werden es selbst machen müssen, ein jeder von uns als Teil eines großen Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Doch hierzu bedarf es eines fundamentalen anderen Verständnisses von Bildung, Lernen und Schule, einer Veränderung unseres Bildungsverständnisses, die sich in der derzeitigen Bildungskrise auch schon mehr als deutlich abzuzeichnen scheint.
Man muss das alte Leben loslassen und auch nicht zu wiederholen versuchen. Aufhören, dem Vergangenen nachzutrauern. Sich all der liegengelassenen Chancen zu verdammen.
Denn auch wenn ich mein Leben nicht noch einmal leben kann (oder zum Glück nicht muss), so kann ich mir dennoch jetzt und auch erst nicht morgen immer wieder sagen:
Ihr
Ulrich B. Wagner