Good Morning Offenbach! Ein Selbstgelächter unter Kopfbedeckung und Beton

Beton ist ein starres Material! Oder? Geht man nach der Meinung unseres Kolumnisten Ulrich B Wagner kann Beton jedoch ein äußerst flexibles Baumaterial sein. Vor allem in diesen schwierigen Zeiten, in denen wir unter dem Schatten der Flüchtlingskrise stehen und sich viele unserer Mitbürger von negativen Schlagzeilen beeinflussen lassen, sollte man berücksichtigen, dass nicht alles schwarz-weiß ist. Lesen Sie im heutigen Beitrag der Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET“, wie bunt es in Offenbach bei Frankfurt zugeht.

Inhaltsverzeichnis

Ich glaube es war Thomas Bernard, der einmal sagte: Es sei am besten, man lebt in einer nicht zu schönen Gegend. Weil einem sonst nichts einfällt.

Ein Wort ein Mann/eine Frau. Also sitze ich nun hier im Offenbacher Nordend, blicke aus dem riesigen Fenster vor dem mein Schreibtisch steht und überlege verzweifelt, was ich nun schon wieder verkehrt gemacht habe.

Die Häuser teilweise noch der eine oder auch andere alte Gründerzeitbau, zwischen den, oder besser, um den herum sich mit aller Gewalt, die es nicht einmal aufzuwenden gab, da die vergangenen, auch unsere Region, nicht nur geistig gefühlt, sondern elementar physisch verwüstenden (europäischen) Weltkonflikte schon zu Genüge ihr Übriges erledigt hatten, betonschweren Verheißungen der ausgehenden 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Betonschwere Symbole, Wahrzeichen eines universellen, offenen und multikulturellen Glaubens, die sich in jener Zeit in Offenbach (und mit Gewissheit nicht nur dort) gen Himmel manifestierten. Nach Jahren der Leere, architektonischer, wirtschaftlicher und zwischenmenschlicher, hatten sie sich als  Neudefinition des „Modernen“ als architektonische Leucht- Richtungstürme ins Blickfeld der nach „neuen“ Sinn und Kultur sehnenden Jungen und des einen oder anderen Alten geschoben.

Beton in Zeiten der Moderne

Modern sollte sie sein, die Stadt der Zukunft, aufgeschlossen, technikaffin, multikulturell eingedampft zwischen dem heute und gestern. Werke eines neuen und insbesondere auch schnelleren, leichteren, „modernen“ Mittels, das ab 1954 in Europa abertausende von Transportbetonwerken, die weit über 50 % der gesamten Zementproduktion abnahmen, aus dem Nichts quellen ließ.

Beton, der seinen eigenen Niedergang schon von Anbeginn in sich trug, in der Mischung, seiner Zusammensetzung, seiner leichtfertigen Verwendung, seiner ungeprüften Verheißungen, die in Bauweisen mündeten, die in kürzester Zeit, Konfliktherde gegen Himmel wachsen ließ, die Ervin Goffmanns Klassiker Etablierte und Außenseiter mit aller Macht ins Bewusstsein derer einbetonierte, die sich für die Chancen und Risiken des sozialen Lebens interessierten.

Beton ist aber nicht Beton. Das Grundrezept für Beton ist einfach und was man für ihn braucht, das liefert die Natur. Gefährlich wird es nur, wenn er auf den einen oder anderen Artverwandten im Geiste des einen oder anderen Erden-/Stadtbewohner trifft.

„Wir müssen allein und verlassen sein, wenn wir eine Geistesarbeit angehen wollen,“ spricht der Musikschriftsteller Rudolf in Bernhards Meisterwerk „Beton“. Seit Jahren beabsichtigt er eine Studie über Mendelssohn-Bartholdy zu schreiben und scheitert schon beim ersten Satz. Schuld daran so glaubt er, ist auch seine Schwester, eine amusische, dafür aber sehr erfolgreiche Frau.

„Als ich erschrocken aufwachte, war es fünf Uhr. Ich stand auf, vergewisserte mich, ob ich auch allein im Hause bin, außer meinem Pulsschlag hörte ich nichts. Ich werde mich beruhigen und anfangen, sagte ich mir. Immer wieder sagte ich mir, ich werde mich beruhigen und anfangen, aber als ich es an die hundertmal gesagt hatte und ganz einfach nicht mehr hatte aufhören können das zu sagen, gab ich auf.“

Es ist Zeit für bunten Beton

Beton, Einsichten und Ansichten,
Auch Beton kann bunt sein. (© Jörg Simon)

So sitze, oder besser gesagt gehe ich immer noch vor: Hinten, mitten, drinnen und draußen durch meine neue Heimat. Ein wenig einsam vielleicht doch nicht allein.

Denn mit jeder Sekunde in der das Gelesene, Gesehene oder Gehörte aus dem vormals ordnenden Schwarz/Weiß des Gewohnheitsmäßigen sich entfernte und einer gelebten Buntheit im Austausch der vermeintlichen Ratlosigkeit mit den anderen, der aus eigenem Willen oder dem Zwang der neo-liberalen Interessen und Gentrifizierungen Unterlegenen und hier Versammelten, einer nicht nur gefühlten, sondern auch als Chance empfundenen „neuen“ Buntheit Platz macht.

Einer Farbigkeit, einer Strahlkraft der Farben, da sollte man die Schwarz-weiß Filter vor den Augen wirklich entfernen, etwas offenbart, das irgendwie neu und doch sehr alt erscheinen mag: Einer lebendigen, jenseits aller musealen Reinzeichnungen und Umfärbungen entzogenen Echtheit des Seins und des Miteinanders, die sich im Öffentlichen trifft und im Privaten seine ganz persönliche Identität findet. Eine Buntheit, die Inspiration und Lebensfreude schenkt und dann auf dem weißen Blatt, das die Privatheit bietet, erste Entwürfe des Zukünftigen bieten kann, nicht nur als neue Vertrautheit für den Einzelnen, sondern auch im Austausch mit den Anderen im Öffentlichen der egoistischen, egozentrischen Buntheit, seine Lautheit und Unaufgeräumtheit im Austausch mit der Buntheit der Anderen nimmt.

Wer färbt unsere Gegenwart neu ein?

Es sind die Vorbilder, die Vorurteile, die unsere wahrgenommene Gegenwart färben, nicht das, was wirklich um uns, vor uns und auch mit uns geschieht. Dies gilt sowohl für das Deutsche, das Europäische, aber auch mit Gewissheit für den Islam.  Denn keine Religion ist mit so vielen Vorurteilen behaftet wie der Islam. Gerade auch hier bei uns in Deutschland ist die Stimmung spätestens seit der Ankunft der Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan aufgeheizt. Muslime sind so für viele zum Feindbild geworden. Doch deren wahre Ursachen betrachten wir dagegen im Gegensatz zu ihren Folgen, einzig einem reflexartigen Dualismus des Denkens, folgend bloß noch mit einem alles andere ausblendenden Filter aus tiefstem schwarz-weiß.

Keine Religion dieser Welt ist in sich selbst schon sehr zersplittert, so bunt, so verschieden und so same, same but totally different wie der Islam. Auch wenn die unterschiedlichen Interpretationen der heiligen Schriften auf das jeweilige Verständnis und Selbstverständnis jedweder Religion selbst auch wieder auf sie einwirken, sich mit Gewissheit und in aller Deutlichkeit in allen andren Glaubensrichtungen genauso zeigt. Auch in der in unserem Land führenden Religion, dem Christentum, gibt es auf der einen Seite Christen, die es für zulässig halten, dass auch Frauen und Schwule Priester werden können, während andere, selbstverständlich auf ihre, ganz private Weise dem Neuen Testament Verpflichteten dies vehement, unter Dauerbekreuzigung und Ausspucken gen Altötting ablehnen.

Akzeptieren Sie die Veränderung

Wir sollten endlich anerkennen, dass es nicht den Islam gibt, den Katholik oder Protestant, sondern vielleicht endlich wieder einmal darüber nachdenken, Symbole, wie auch immer geartete, als Ausdruck, aber auch als Schutz und Abgrenzung von persönlichen Interessen zu betrachten, die in einen Bereich der Gesellschaft gehören, die der Privatheit geschuldet sind und nicht in der Öffentlichkeit als Mittel der Stigmatisierung oder Ausgrenzung benutzt werden sollten.

Menschliches Leben, oder genauer gesagt das menschliche Zusammenspiel der Menschen im sozialen Raum, entscheidet sich in der Regel genau an der Grenze dessen, was sich sowohl im Privaten, im geschützten verborgenen Raum der Hinterbühne und dem für alle offenen Blick der Vorderbühne der Öffentlichkeit gespielt wird. Eine für jeden existentielle Entscheidung, auch über so häufig flapsig hingeworfene Statements von richtig oder falsch.

Betrachten sie bloß unter diesem Aspekt ein Video, das es leider nur mit französischen Untertiteln gibt: Eine Rede des einstigen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser in den 1950er Jahren. Nasser berichtet seinem Publikum von einem Treffen mit dem Anführer der Muslimbruderschaft, dem Murshid, mit dem der Staatschef eine Übereinkunft finden wollte. Der Murshid habe eine lange Liste mit Forderungen, sagt Nasser. Seine wichtigste Forderung sei es, einen Kopftuchzwang für die Frauen in Ägypten einzuführen. Als er diese Worte ausspricht, bricht das gesamte Publikum in Lachen aus und jemand ruft: „Lass ihn doch selbst ein Kopftuch tragen!“ Nasser lächelt und berichtet, was er dem Murshid antwortete. Er, Nasser, wisse zufällig, dass dessen Tochter, die an der Universität studiere, sich weigere, ein Kopftuch zu tragen. „Sie können noch nicht einmal Ihre eigene Tochter dazu bringen, ein Kopftuch zu tragen“, hatte Nasser dem Murshid erwidert. „Und ausgerechnet Sie fordern mich auf, 10 Millionen Frauen zu zwingen, ab jetzt eine Kopfbedeckung zu tragen?“ Erneut bricht das Publikum in lautes Gelächter aus.

Auch Beton ist flexibel

Das Dämonische in uns ist ein immerwährender vaterländischer Kerker, in dem die Elemente der Dummheit und der Rücksichtslosigkeit zur tagtäglichen Notdurft geworden sind, hat Bernard an anderer Stelle einmal geschrieben. Mit unhinterfragt als Realität und Ausdruck von Einheitlichkeit verstandenen benutzten Symbolen aus dem visuellen Bereich hat es das Gleiche auf sich. Bei näherer Betrachtung verweisen sie am Ende des Tages nur auf die eigene Beschränktheit der Wahrnehmung von komplexen, sich teilweise fast sogar widersprechender Wirklichkeiten, die diese Vielfalt als Bedrohung und nicht als Möglichkeitsraum betrachten. Hüben wie drüben. Dies bedarf jedoch der Offenheit und der Flexibilität, die selbst ein, eigentlich so einfacher Werkstoff wie Beton im Laufe seiner Verwendung im öffentlichen Raum erst einmal erfahren musste.

Doch hierzu bedarf es des offenen Austausches, des offenen Konflikts in dem die Grenzen des Miteinanders und dessen was im Verborgenen, und im Privaten bleiben sollte, immer wieder, auch nur durch Konflikt, ausgetragen werden kann. Dies gilt mit Sicherheit für alle Äußerlichkeiten, alle Formen der Gestaltung von Fassaden, die das Eigene zu schützen, aber auch auszudrücken und gewährleisten zu gedenken.

Gehen Sie raus und entdecken Sie!

Als ich dies schrieb, dachte ich mir: Geh doch selbst endlich raus und habe noch im selben Moment meinem türkischen Freund und Cafehausbesitzer, noch vom Schreibtisch aus, ein Zeichen über die Straße gegeben, das wir beide auf Anhieb verstanden. Worauf er auch erst einmal wieder im drinnen verschwand, um mir einen Café zu bereiten, den ich zwar nicht so dringend brauche wie den kommunikativen Austausch mit ihm und „bin dann sofort bei diesem Gedanken in Gelächter ausgebrochen, in eines jener von mir so genanntes Selbstgelächter, das ich mir (auch gerade im Schreiben der vorliegenden Kolumne) im Laufe des Alleinseins angewöhnt habe.“  (Thomas Bernard, Beton – ein Selbstgelächter, Suhrkamp)

Oder machen Sie doch mal selbst einen Ausflug nach Offenbach. Schlendern Sie durch die Straßen, betrachten sie die Buntheit und Vielfalt, aber auch die andere Form, gelassener Aufgeregtheit, die sich aus einer Toleranz und dem Respekt des Anderen ergibt, die schlicht und einfach dem Pragmatismus und dem Respekt gegenüber der Möglichkeiten des Andersseins geschuldet sind: Der faszinierenden Möglichkeit des Unmöglichen.

Für alle Interessierten von Außerhalb hier eine erste Orientierung.

 

Ihr

Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?