Gestern titelte DER SPIEGEL ONLINE: Bayern-Niederlage in Madrid: „Seufz“, um dann euphorisch fortzuschreiben, „bei manchem Duell ist man als Fußball-Liebhaber einfach glücklich, dass man es erleben darf. Das zwischen Diego Simeones Atlético Madrid und Josep Guardiolas Bayern München ist so eines. Denn im Madrider Estadio Vicente Calderón kam es zum Aufeinandertreffen von zwei der grundverschiedensten Spielstile unserer Zeit. Raumverknapper gegen Raumöffner, Verteidigungskünstler gegen Offensivzauberer, ein Duell der Gegensätze eben“.
Gegensätze ziehen sich an und verändern die Welt
Ein Spiel der Gegensätze, aktuell und zeitgenössisch. Kurz und knapp auf den Punkt gebracht: Ein Sinnbild unserer Zeit.
Und mittendrin ein trotz Niederlage, positiv denkender, ja fast fröhlich anmutender David Alaba, der in breitem „Österreichisch“, was für einen Frankfurter, nicht nur zu fortgeschrittener Stunde gerne auch wie „Bayerisch“ klingt, sondern sich auch anfühlt, vor laufender Kamera konstruktive Selbstkritik übte: „Ich habe beim Gegentor versucht das kurze Eck zuzumachen und Manuel (Neuer, Anmerkung des Kolumnisten) die lange Ecke überlassen. Vielleicht hätte ich es besser lösen können“.
So sehen Sieger aus, wenn sie „mal“ verlieren. Lehrstunden in Demut, angesichts der Rundheit der Herausforderung und ihrer damit auftretenden Komplexität. Das Spiel als Sinnbild und der dazugehörige Spieler, ein bildnerischer Philosoph in Zeiten der Postmoderne.
Willkommen in der schönen, neuen Welt. Es gibt Dinge im Leben, die merkt man wahrscheinlich erst, nicht wenn es schon vorbei ist, denn vorbei ist es nie, sondern immer nur, wenn man mittendrin ist. Nämlich dort wo das Wasser nicht nur am tiefsten, sondern auch am kältesten ist und der Wechsel der in der Wahrnehmung, in der Konstruktion dessen, was wir Wirklichkeit nennen, uns mit aller Vehemenz, mit jeder Brechung des Lichts, jeder Spiegelung, jeder Wieder- und Widerspiegelung durch unsere visuellen Öffnungen vor unser inneres Auge springt.
Manchmal dauert es halt dann doch ein wenig länger. Doch auch diese Länge ist einzig und allein, eine konstruierte, die ihre Dimension mit einer leichten Veränderung des Blicks, aber vor allem auch dem, in dem unsere visuellen Öffnungen verortet sind oder einfach mit einem meiner Lieblingszitaten ausgedrückt: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.
Ein grenzenloser Möglichkeitsraum
Vor 400 und 2 Jahren präsentierte ein fröhlicher, florentinischer Pizzabäcker seine wichtigsten Forschungsergebnisse, jene vom Sonnensystem, die die Welt verändern sollten: Sein heliozentrisches Weltmodell, in dem die Planeten um die Sonne kreisen und die Sonne Mittelpunkt des Systems sei. Nur so am Rande für die, die damals nicht in der ersten Reihe saßen 🙁 : Davor glich die Welt, in der öffentlichen Wahrnehmung, eher einer Pizza und das sie umspülende Getränk, war der Anfang vom Ende der Welt. Eine zentrale Lebensweisheit, die jeder gerne auch mal beim Italiener seiner Wahl bei einem Scheibchen Pizza und ordentlich billigem Lambrusco mal selbst testen kann.
Eine Tatsache, die gerne als Inversion oder auch als subversive Dispersion im postmodernen Lebensraum zum Ausdruck kommt und das wiedergibt, in dem wir gerade leben, wirken und uns fortbewegen: Einem im Grunde, fast grenzenlosen Möglichkeitsraum. Es kommt halt, wie bei allem im Leben, auf den Blick des Betrachters und seinem dazugehörigen Standpunkt an.
Haferflocken mit Florida Boy
Meine Oma, eine weise Frau aus alten Zeiten, versuchte mir, dem kleinen Jungen, der Milch per se und warme erst Recht hasste, diese Tatsache am liebsten an dem von ihr für mich erfundenen Frühstück zu verdeutlichen: Haferflocken mit Forida Boy.
1974. Ich bekam die Schultüte und Deutschland wurde zum zweiten Mal in der Geschichte des Weltfußballs Weltmeister und hatte einen Ausländeranteil von etwas über 1,08 % gegenüber etwas mehr als 8,6 % Ende 2015 (in Häufigkeiten ausgedrückt: 1974 gab es 78.882.000 Deutsche bei 2.907.000 Ausländern, gegenüber 71.212.000 Deutschen und 10.688.000 Ausländern Ende 2015).
Wir leben immer noch und wenn wir uns die Lebenswirklichkeit von 1974 ansehen, was jeder gerne für sich selbst einmal, sich vor seinem inneren Auge visualisieren kann, meines Empfindens 1000 Mal schöner, bunter und offener.
Und ich glaube dem guten, alten Lenny Kravitz, der nur gerade einmal 3 Jahre älter ist als ich und zu der Zeit als ich die Haferflocken mit FLORIDA BOY aß und auch herunterspülte, für dieses, heute leider fast in der Versenkung des Vergessens verschwundene leckere Getränk in einem Commercial zu sehen war:
Commercial Florida Boy
(Quelle: pepsifrankfurt / YouTube)
Der selbe Einheitsbrei und doch ist alles anders
Wir leben zwar im Zeitalter der Ähnlichkeiten doch trotzdem ist alles zum Glück neu und doch wiederum zum Glück im Namen der Anschlussfähigkeit auch so gleich.
Die klassische Ordnung des Wissens, was Foucault schon in Die Ordnung der Dinge gezeigt hatte, doch nicht nur diese, ist für immer verloren. Der Bruch der Moderne mit der Klassik bedeutet, wie wir ihn alltäglich schmerzlich erfahren müssen, kann nicht als ein Fortschritt des Wissens per se begriffen werden, sondern als die Ersetzung einer klaren, distinkten Ordnung im Sinne Descartes, aus der heraus sich eine chaotische Form der Nicht-Ordnung nur bilden lässt, wenn sie die Form der Fiktion annehmen.
Wenn Foucault in diesem Versuch auch noch das Werk des von mir über alle Maße hochgeschätzten Borges mit dem Begriff der Heterotopie zusammenzubringen versucht, dann macht er nur deutlich, dass auch die räumliche Ordnung der Klassik eine Auflösung erfahren hat, die so Foucault im O-Ton: „…zu einem raumlosen Denken, zu obdachlosen Wörtern und Kategorien führt, die in der Literatur (der verschrifteten Bildgebung, Anmerkung des Kolumnisten) ihr Asyl finden.“
Die Gedanken müssen neu geordnet werden
Wir müssen die Bilder neu sortieren. Sie neu ordnen. Die Fotoalben in unseren Köpfen endlich mit denen der Wirklichkeit in Einklang bringen, ähnlich dem Versuch, den Christian Staas ansatzweise bereits 2007 an einem Teilaspekt unserer sozialen Wirklichkeit in DIE ZEIT anhand eines Bildes auf einer Postkarte tat:
Eine Postkarte des Fotografen Günter Zint von 1967 zeigt eine demonstrierende Menschenmenge, den Ku’damm in voller Breite einnehmend. Unter dem Bild der ironische Satz: »Wir sind eine kleine radikale Minderheit.« Sollen die Konservativen doch ruhig versuchen, den Protest zu marginalisieren! 40 Jahre später verfolgt eine neue Generation von Konservativen die umgekehrte Strategie. Sie reden die Revolte nicht klein, sondern groß. 68 erscheint ihnen (wie den Protestierenden von damals!) als ein gewaltiges Ereignis, nur unter verkehrten Vorzeichen: nicht als Aufbruch, sondern als Katastrophe. Werte kaputt. Familien kaputt. Arbeitsmoral kaputt. Das Schlimmste: Die Kaputtmacher seien heute an der Macht.
Sind sie das wirklich? Mag sein, dass ein paar 68er erfolgreich durch die Institutionen marschiert sind und dies die Institutionen verändert hat. Weit mehr noch aber dürften die Institutionen die 68er verändert haben. Aus radikalen Utopisten, das haben sieben Jahre Rot-Grün hinreichend gezeigt, sind brave Realpolitiker geworden. Ungeachtet dessen – und ungeachtet aller historischen Fakten – bauschen Neukonservative die Revolte zu einem Schreckensszenario auf. Ihre Gegenrezepte sind von bestürzender Schlichtheit. Mehr Markt, weniger Staat. Freiheit statt Gleichheit – was meint: Wettbewerb statt soziale Leistungen. 1968, scheint es, ist eine willkommene Projektionsfläche, um die eigene Ambivalenz zu entsorgen – indem man den 68ern die psychosozialen Folgen des neoliberalen Gesellschaftsumbaus anlastet, den man selbst mit Vergnügen vorantreibt.
Ich für meine Person möchte an dieser Stelle für heute enden und überlasse ihnen die Bildfläche, jedoch nicht ohne ihnen hierfür die Lektüre des Klassikers von Jorge Luis Borges ans Herz zu legen Tlön, Uqbar, Orbis und Tertius, der sich schon zu Beginn der Erzählung auch als das herauskristallisiert, was wir heute mit aller Wucht erleben: Eine spielerische Auflösung der Ordnungssysteme. Die Entdeckung Uqbars, verdanke er, so der Erzähler, der Konjunktion eines Spiegels mit einer Enzyklopädie.
Doch die Spiegelungen des Wissens verdanken sich dem gleichen System, das Foucault der Aufklärung vorbehalten hatte: der Ähnlichkeit. Einem Spiel der Verdopplungen, denn in Tlön verdoppeln sich die Dinge, sie neigen ebenfalls dazu undeutlich zu werden und die Einzelheiten einzubüßen, wenn die Leute sie vergessen (Borges, S. 150).
Wir brauchen daher mit Gewissheit keine Revolution im klassischen Sinne, sondern eine Revolution der Bilder, ein neues Bild der Gemeinschaft, das mit dem Vergessen seinen Anfang nimmt.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen „den Blick“ auf die Bilder, die uns bewegen.
Ihr
Ulrich B Wagner