Heim@t? Versuch über ein Gefühl auf der Flucht

Gerade „Wir Deutsche“ haben enorme Probleme mit Heimat. Kaum ein Wort wurde – und wird – so oft verfemt, missbraucht und ideologisiert. Gerade Diskussionen um Vorfälle wie  in Clausnitz und Bautzen machen das deutlich. Sollte man außer lieber die Finger davon lassen, um sich eben diese nicht zu verbrennen? Nein, sagt unser Kolumnist Ulrich B Wagner. Lesen Sie im heutigen Beitrag von QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag, warum vor allem in der heutigen Zeit wir Deutsche, und zwar mehr denn je, eine Heimat brauchen.

Grenzen definieren uns

In den letzten Tagen, Wochen und Monaten beherrscht ein Wort die Öffentlichkeit, aber im Grunde genommen geht es, von einer anderen Warte aus betrachtet, ein Leben lang um dieses eine Thema und die Welten, die sich nicht nur sprichwörtlich dahinter verbergen: Grenzen.

Um ihre Anerkennung, ihre Versuchungen, ihre Überschreitungen, das Schmuggeln, das Ein- und Ausgrenzen, sowie ihre Klärung, Diskussion und kontinuierliche Erweiterung und Neudefinition. Grenzen definieren uns, sie beschreiben uns, sie geben Halt und Sicherheit.

Allein die Geburt, das Verlassen des geschützten Raums im Mutterleib kann als erste fundamentale Grenzüberschreitung bezeichnet werden und wird einzig durch die vielleicht wirklich letzte, die des Todes fürs erste übertroffen.

Die Grenze: eine fundamentale Voraussetzung der Freiheit?

Eine wichtige Frage, die sich in diesem Kontext, auch für mich immer wieder stellt, ist die, ob durch totale Grenzenlosigkeit vielleicht erst vollkommene Freiheit entstehen kann oder ob nicht gerade sie, die Grenze, in ihrem Sein eine signifikante, ja eine fundamentale Voraussetzung der Freiheit darstellt?

Immanuel Kants Definition der Freiheit, die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt, die wahrlich zum Grundtenor einer guten Allgemeinbildung gehört, ist hierfür der beste Garant.

Grenzen, Freiheit und Verantwortung, mit Sicherheit drei fundamentale, humanistische Werte, die auch in George Bernhard Shaws Aussage: Freiheit bedeutet Verantwortung (persönliche Verantwortung), weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten, zum Ausdruck kommt.

Wörter und ihre Bedeutung

Erst einmal Worte, reine Worte? Oder ist es nicht gerade so, wie es der gute alte Konfuzius es einmal auf den Punkt brachte: „Wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren, verlieren Menschen ihre Freiheit“?

Wörter und ihre Bedeutung. Woher kommen aber die Wörter, von ihrer Bedeutung erst einmal ganz zu schweigen, möchte ich Sie an dieser Stelle wirklich vollkommen naiv und ohne weitere Hintergedanken fragen.

Haben Wörter gar eine Heimat? Und wenn ja? Haben wir Menschen nicht alle eine Heimat und wenn nicht? Warum nicht? Besteht denn das Leben im Großen und Ganzen nicht gerade auch darin, seine ganze persönliche Heimat zu finden, die wiederum nur im Miteinander mit signifikanten Anderen, im Austausch, im Lernen von und durch, aber auch im Konflikt mit den Anderen erwachsen kann.

Heimat!?

Heim@t?
Heimat – gerade für uns Deutsche ein Unwort?(Foto: „Heim@t?“ / © Jörg Simon 2016)

Ein Unwort vielleicht sogar? Es gibt meines Erachtens kein Wort, das so paraphrasiert, so vollgeladen, überfrachtet, überdehnt, ideologisiert, verfemt, missbraucht, ideologisiert, verkitscht und missverstanden wird, wie das Wort Heimat. Meine Person auf alle Fälle eingeschlossen. Wäre es daher nicht nur ratsam, sondern auch angesagt, unter den heutigen Umständen, die Finger davon wegzulassen?

Denn gerade „Wir Deutsche“ haben enorme Probleme mit Heimat und/ oder Nationalstolz und das mit Sicherheit zu Recht. Dennoch bricht wohl gerade etwas im öffentlichen Bewusstsein auf, das manifest oder latent nicht nur in allen Debatten, sondern auch bei allen Debattierenden zum Tragen kommt: der Wunsch nach Heimat, als einen Ort von Identität, Sicherheit und Zugehörigkeit. Die kollektive Sehnsucht nach einem Anker, nach Geborgenheit auf stürmischer Zeitgeschichte. Heimat ist immer auch Erinnerung. Erinnerung in weich gezeichneten Bildern, Verklärungen, Weglassungen und Übertreibungen.

Heimat!? Wie stark sie sentimentalisiert, aber auch instrumentalisiert wird in solch schweren gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen, die durch Hardcore-Globalisierung, Flüchtlingskatastrophen, veränderte Kommunikation und der Schaffung von virtuellen Welten geprägt sind.

Heimatliebe? Heimat ist ein Gefühl, jenseits von Zahlen und Fakten. Wirklich? Sind es vielleicht nicht gerade „die Menschen“ im Moment, deren Welt bloß aus Zahlen und Fakten bestehen, die einen bedeutsamen Teil des Problems darstellen? Sei’s drum.

Heimat prägt. Heimat fordert heraus? Wer bestimmt was Heimat ist? Jeder Einzelne wirklich ganz allein für sich und was passiert wenn ich meine Heimat verlasse, freiwillig oder unter Zwang? Was tut es mit mir? Was tut es mit meinem Denken, mit meinem Sein?

Wir Deutsche brauchen wieder eine Heimat

Freiheit braucht eine Heimat. Die Flüchtlinge brauchen eine neue Heimat. Wenn vielleicht auch nur für eine gewisse Zeit bis sie in ihre zurückkehren können und auch wollen.

Aber auch diese Heimat wird dann eine andere geworden sein. Sie wird sich verändert haben, durch den Krieg und die Gewalt, aber auch durch das was sie bei uns mitbekommen haben. In die eine oder andere Richtung. Wir haben es in der Hand.

Echte Heimat kann jedoch nur der finden, der auch vorher bereits seine eigene, ganz persönliche Identität gefunden hat, ansonsten bleibt sie Illusion und Selbstentfremdung durch Anpassung. Denn die Masse der Angepassten hat keine Heimat, sie hat nur ein Establishment mit Flagge, Bilanzen und Kontozahlen, das sich Heimat ausgibt und dazu die passenden Macht- und Druckmittel besitzt. Mich befällt ein Unbehagen, wenn ich mich umblicke:

  • Wer sind wir Deutsche?
  • Sind wir Europäer?
  • Deutsche Europäer aus Bekenntnis, aus Heimatgefühl und Staatsbürgerschaft?
  • Geht es uns wirklich um Freiheit, Demokratie, Chancengleichheit, Toleranz und Achtung des Anderen? Gibt es „Die Deutschen“ überhaupt noch?
  • Oder ist auch dies auch bloß Trug und Schein?

Es gibt Winkel in unserer Gesellschaft, in denen die oft gedankenlose Unmenschlichkeit als System fortlebt. Es gibt den beißenden Kontrast des Geredes von der Humanität zu der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Es ist diese Mischung von theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit, die Deutschland zuweilen so unerträglich macht, sagte Ralf Dahrendorf einmal sehr treffend und ich kann ihm nur mit ganzem Herzen zustimmen.

Denn Freiheit und Demokratie brauchen eine Konfliktkultur. Doch auch hierfür könnte ein gutes und sicheres Heimatgefühl mit Sicherheit mehr als hilfreich sein.

Max Frisch, der neben unzähligen anderen Dichtern, Denkern, Künstlern und vielen anderen Menschen aus meinem Leben, meinen Begriff der Heimat maßgeblich geprägt hat, äußerte sich hierzu im Rahmen der Verleihung des Schillerpreises durch die schweizerische Schillergesellschaft im Jahre 1974, einer Zeit die auch durch enorme Krisen, aber auch durch den Umgang mit Flüchtlingen geprägt war, mit einer Präzision und Aktualität, die nicht zu übertreffen ist und uns bei den eigenen Überlegungen sehr hilfreich sein kann.

Video: Max Frisch – Die Schweiz als Heimat?

[Anmerkung der Redaktion: Das hier eingebettete Video wurde (vorübergehend) entfernt, ist jedoch weiterhin hier zu finden: TextundBuehne / YouTube.]

 

Ich wünsche Ihnen gute Anregung und eine sicheres Gefühl von einer Heimat in Freiheit, einer satisfaktionierenden Lebenswelt wie es der Soziologe auf den Punkt bringen würde 🙂 .

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?