Heimelige Fremdheit. Versuch über das „Ja, aber …“

Der Raum ist zunächst einmal nicht weiteres, als eine Worthülse. Eine verbale Beschreibung zur Herstellung von Gemeinsamkeit. Deshalb ist das Verständnis vom Raumbegriff hin und wieder einem revolutionären Wandel unterworfen. So auch heute, im Zuge der technologischen – und damit verbundenen – politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Unser Kolumnist Ulrich B Wagner zeigt im aktuellen Beitrag zu „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ auf, wie sehr das Finden eines neuen Verständnisses von Raum unser Denken beansprucht.

Ihr Lieblingswort: Power

Es ist das Wort, das ich am meisten höre in diesem Land: Power.
Darauf ist man stolz: Power.

Ohne das geht es nicht mal im Kunsthandel.
Money? Das ist das anspruchslosere Synonym.

Das ethische Synonym: Liberty.
Und darum geht es doch: Liberty, das ist es, was jeden Amerikaner überzeugt:
Power = Liberty

Und da gibt es keine Dialektik

Max Frisch

Wo ist die Grenze?

Sie sind als erste zum Mond geflogen. Sieht man von Laika einmal ab. Sie waren da: Als Erste. Das vergisst man zu gerne. Denn es scheint eigentlich keine Weltgeschichte geschrieben zu haben, wie Max Frisch in seinen Entwürfen vermerkt.

Raum = Space. Der Raum als Möglichkeitsraum: Open Space gar? Raum als Grundlage sozialer Beziehungen. Wo ist die Grenze? Begrenzung? Nicht in der bloßen physikalischen Bedeutung, sondern als Symbol.

Es war Kant, der den Raum als Form des äußeren Sinnes verstand, mit Hilfe dessen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume wahrnehmen und begreifen.

Was ist uns fremd? Was ist das Fremde? Der Fremde? Die Fremden, die an unseren Grenzen rütteln? Am Selbstverständlichen? Am als selbstverständlich Geglaubten gar bloß?

Der Fremde. Derjenige, der heute kommt und morgen bleibt.

Es scheint aus dem Derzeitigen, der normativen Kraft des Faktischen heraus gesehen, daher fast als ein Treppenwitz, dass Georg Simmels 1908 erschienenes Werk „Exkurs über den Fremden“ in den USA, seit den 1920er Jahren bis heute, unter dem Titel „The Stranger“, als wissenschaftlicher Klassiker gilt. Das Verhältnis zu Raum ist die Bedingung zum Verhältnis der Menschen, vermerkte Simmel hierin. Oder im O-Ton:

„Nicht die Form räumlicher Nähe oder Distanz schafft die besonderen Erscheinungen der Nachbarschaft oder Fremdheit, so unabweislich dies scheinen mag. Vielmehr sind auch dies rein durch seelische Inhalte erzeugte Tatsachen, deren Ablauf zu ihrer Raumform in keinem prinzipiell andern Verhältnis steht als eine Schlacht oder ein Telephongespräch zu den ihrigen – so zweifellos auch diese Vorgänge sich eben nur unter ganz bestimmten Raumbedingungen verwirklichen können. Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.

So gesehen ist der Fremde zwar räumlich nahe, aber aufgrund der besonderen Eigenschaften, die er im Gepäck hat und die den Heimischen bisher in dieser direkten Nachbarschaft unbekannt waren, ist er fern, gehört er nicht zu den Einheimischen.

Mit ihm ist das Fremde nah. Aber der Idee des Fremden entspricht eigentlich die räumliche Ferne. So gesehen ist der Fremde, nach Simmel, demnach anders als der Wandernde, welcher kommt und wieder weiterziehen wird, derjenige, der heute kommt und morgen bleibt.

Worte sind erst einmal Hülsen

Man teilt sich den als gemeinsam anerkannten Raum dann. Eine Tatsache, die jeder von uns in dieser Form kennt: Alltägliche räumliche beziehungsweise körperliche Nähe bedeutet nicht zwangsläufig immer auch emotionale Nähe, Vertrautheit. Umgekehrt drückt räumliche Entfernung nicht unbedingt emotionale Entfernung oder Fremdheit aus. Nahestehende, vertraute Personen können räumlich sehr fern sein.

Der Wandernde, der neoliberale Wanderer des Open Spaces, stellt dagegen, durch eine Gelöstheit von einem bestimmten Ort, den begrifflichen Gegensatz zum Sesshaften mit seinem fixen Raumpunkt dar. Doch wo bleibt der gegebene Raumpunkt des Sesshaften, des gesellschaftlichen Raums, der geistigen, der ethischen, der moralischen Verortung in Zeiten des Open Space? Ist dann doch alles bloß eine Frage des Öffentlichen und des Privaten – des öffentlichen und des privaten Raums?

Alle Worte sind erst einmal Hülsen, Ordnungspunkte, Beschreibungen zur Herstellung von Gemeinsamkeit mit Sicherheit, doch ihr Leben erhalten sie erst durch das was schon drinnen ist oder dann versucht wird reinzustecken. Eine Tatsache, die in der Gemeinschaft, der Freundschaft, aber erst recht im Gesellschaftlichen, zu gelten scheint.

Insbesondere auch bei aller heimeligen Anmutung des Fremden, ob nun bei Trump oder Erdogan. Es ist an uns zu definieren, was uns zusammenhält im Öffentlichen, in dem was wir als gesellschaftlichen Raum bezeichnen und was dann doch besser in der Freiheit des Privaten verortet sein sollte.

Vielleicht ist es auch einfach mal wieder Zeit in die Schule zu gehen? In eine Schule der Gegenwart in der wir das Gemeinsame hinter der Beliebigkeit des bloßen Wortes erlernen.

Ihr Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?