Was ist Zeit? Aus dem Film und Buch „Der Hobbit“ kennen wir vielleicht das Rätsel der Zeit: „Etwas, das alles und jeden verschlingt; Baum, der rauscht, Vogel, der singt, frisst Eisen, zermalmt den härtesten Stein, zerbeißt jedes Schwert, zerbricht jeden Schrein, schlägt Könige nieder, schleift ihren Palast, trägt mächtigen Fels fort als leichte Last.“ Die Lösung: Die Zeit. Aber das ist nur eine Sichtweise.
Auch Ulrich B Wagner fragt sich in seiner heutigen Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET“: Was ist Zeit und wie nehmen wir sie wahr? Er reist gedanklich für die Antwort bis nach Bolivien.
Jedes letzte Jetzt ist als Jetzt je immer schon ein Sofort-nicht-mehr, also Zeit im Sinne des Nicht-mehr-jetzt, der Vergangenheit; jedes erste Jetzt ist je ein Soeben-noch-nicht, mithin Zeit im Sinne des Noch-nicht-jetzt, der «Zukunft».
Heidegger, Sein und Zeit
Man sollte beständig die Wirkung der Zeit und die Wandelbarkeit der Dinge vor Augen haben und daher bei allem, was jetzt stattfindet, sofort das Gegenteil imaginieren.
Schopenhauer
Verstrichene Zeit
Meine Großmutter war eine einfache Frau. Herzlich, charmant und voller Lebensfreude. Um die Jahrhundertwende, nicht die letzte, sondern die vorletzte natürlich, geboren, hat sie die großen Katastrophen der jüngeren deutschen Geschichten mit Irrungen und Wirrungen am eigenen Leib miterleben müssen.
Sie war eine einfache Frau – einfach zwar und doch voller Weisheit. Als ich als kleiner Junge einmal wieder sehr traurig war, nahm sie mich auf den Schoß, umschloss mit ihren großen weichen Händen meinen kleinen Kopf, drückte ihn an sich, schüttelte leicht den Kopf und sprach während sie nonchalant mit den Schultern zuckte:
„Weißt Du mein Kleiner, höre auf Dir Sorgen zu machen, der Mensch denkt und der liebe Gott lenkt. Noch während der Satz in meinen kleinen Kinderohren nachklang, wischte sie mir die Tränen von der Backe und meinte, aber das mit dem Lenken ist schon okay mein Kleiner, denn der liebe Gott ist ja mittlerweile auch schon tot. Also hör auf dein kleines Köpfchen zu quälen. Nimm ein Stück Kuchen von Oma, schließe die Augen, lass es auf der Zunge zergehen und genieße dein kleines Leben. Schau das du immer da bist, wo du auch gerade bist, sauge es auf und tu, was jetzt gerade richtig ist. Wir wissen alle nicht was morgen kommt, mein Kind.“
Meine Oma war irgendwie seltsam manchmal, irgendwie verstand ich sie nicht. Doch mit meinen drei Jahren, verstand ich so Vieles noch nicht – auch ihre Schlaflieder: „Schlaf Kindlein, schlaf. Dein Opa ist ein Schaf. Dein Opa ist in Pommerland und Pommerland ist abgebrannt. Schlaf Kindlein, schlaf.“
Entschlossen bleiben
Ich vermisse sie von Zeit zu Zeit sehr in ihrer herzlichen Einfachheit, ihrem Humor, ihrer unbändigen Lust am Leben, ihrem Steh- und insbesondere (Wieder-) Aufstehvermögen. Oma versuchte immer wieder aufs Neue dem Leben, der Zeit und all den damit verbundenen Widrigkeiten mit aller Entschlossenheit, auf ihre Art, ein Schnäppchen zu schlagen.
Mein Oma lebte nicht nicht bloß im Hier und Jetzt, sondern war auch entschlossen, entschlossen zu leben.
Sie lebte über dreißig Jahren in wilder Ehe mit einem verheirateten Mann, fuhr mit ihm, auch noch mit knapp 70, unverdrossen Motorrad. Sie ließ sich nach ihrem ersten Schlaganfall auch nicht davon abhalten, ein wenig verängstigt zwar, doch entschlossen – dann halt mit Opas Schweißerbrille und -handschuhen – selbständig Marmelade einzukochen. Sie ist noch heute meine Heldin der Gegenwärtigkeit und der Entschlossenheit oder wie Heidegger es philosophischer ausdrückte: Nur der Entschlossenheit kann das aus der Mit- und Umwelt zu-fallen, was wir Zufälle nennen.
Warum erzähle ich Ihnen eigentlich das Ganze? Vielleicht weiß ich es selbst gerade nicht ganz genau, doch es kümmert mich seltsamerweise nicht, denn ich fühle mich irgendwie gerade hier und das fühlt sich gut an.
Von der Geschichte der Zufälle und der Zeit
Es sind wahrscheinlich wirklich die Zufälle im Leben, die das Leben erst zum Leben erwecken. Durch Zufall fiel mir die Tage ein alter brand eins Artikel in die Hände in dem über das Volk der Amyra, den Ureinwohner der Hochebene Boliviens berichtet wurde. Ein Volk mit eigener Logik. Denn alle Menschen glauben, mich bis eben eingeschlossen, das Morgen liege vor und das Gestern hinter uns. Nur unsere Freunde in der Hochebene nicht. Geht es ihnen vielleicht nicht sogar besser damit, als uns? Uns, die wir daran glauben und hoffen, dass die Geschichte und damit auch wir einer klaren Linie folgen? Welcher geraden Linie überhaupt? Ist nicht jede Linie, die wir in der Natur finden oder auffinden können, aus der Vogelperspektive betrachtet, eine mäandrierende?
Räumliche Metaphern zu verwenden, um die Zeit und ihren Lauf zu beschreiben, scheint weit verbreitet. Eigentlich tun es, soweit ich weiß, alle Menschen. Und außerdem tun sie dies in der Regel mit zwei einfachen Grundmodellen. Ausgenommen unsere bolivianischen Freunde natürlich. In einem der beiden Modelle bewegen wir uns, jeder Einzelne auf einer Linie innerhalb des Zeitraums. Wir kommen aus der Vergangenheit und bewegen uns kontinuierlich auf die Zukunft zu. Weihnachten steht vor der Tür und wir gehen dem Jahresende entgegen. Im anderen Modell ist es die Zeit selbst, die sich bewegt, die Zukunft kommt auf uns zu, sie läuft uns mit ausgebreiteten Armen entgegen. Gemeinsam ist beiden Modellen die Reihenfolge, das Vergangene liegt hinter uns und das Zukünftige nunmehr vor uns.
Die Spirale der Zeit im Denken der Amyra
Die Amyra denken gar nicht daran so zu denken. Sprechen sie von der Zukunft, benutzen sie ein Wort, das man vielleicht mit Hinterzeit oder Zurückzeit übersetzen könnte. Sprechen sie über Vergangenes, zeigen sie automatisch nach vorne. Fragt man sie dagegen nach der Zukunft, folgt intuitiv eine Handbewegung, die den Eindruck erweckt, sie wollten wirklich etwas über ihre Schulter werfen. Amyra reden gerne über die Vergangenheit. Jorge Miranda, ein älterer Herr, der für indianische Rechtsfragen im bolivianischen Rechtsministerium zuständig war, als ihn BRAND EINS vor sechs Jahren interviewte, auch.
Alles was wir sicher wissen, liegt in der Vergangenheit, sie ist der Schatz der Menschheit, doziert er lächelnd und malt dabei einen Kringel auf ein vor ihm liegendes Stück weißes Papier: der Schatz der Vergangenheit.
Aber, aber… und jetzt kommt das große, große ABER unseres indianischen Freundes, wir leben in der Gegenwart! – Zwischenfrage: tun wir dies wirklich mit Haut und Haaren? Wir leben in der Gegenwart, auch wenn unser Kopf meist mit Anderem beschäftigt ist, dem Vergangenen oder dem Zukünftigen. Als er das Wort Gegenwart ausspricht, malt Miranda ein Kreuz auf das Papier, neben den Kringel: die Gegenwart. Bei jeder Entscheidung, die wir treffen, wenden wir nicht nur unser Wissen aus der Vergangenheit an, sondern das Vergangene prägt auch unsere Wahrnehmung des Gegenwärtigen und verzerrt diese Wirklichkeit vielleicht sogar, was zu falschen Interpretationen führen kann. Während er dies ausführt, verbindet er mit einem leichten Strich Kringel und Kreuzchen. Bei allem was wir tun, wird unser Wissen aus der Vergangenheit in der Gegenwart präsent, was auch eine der Ursachen der zwischen einzelnen Menschen doch häufig anzutreffenden unterschiedlichen Konstruktion der Wirklichkeit sein kann.
Gegenwart ist so gesehen, eine ständige Veränderung mit dem Blick auf die Vergangenheit. Und die Gegenwart wird, kaum das sie gelebt ist, in diesem Prozess selbst sehr schnell zur Vergangenheit. Er malt, während er dies sagt, vom Kreuzchen einen Pfeil zurück zum Kringel. Das gerade im Moment Erlebte wird, während wir es nur denken, schon Teil des Vergangenen. Teil dessen, was im nächsten Augenblick schon wieder als Interpretationshilfe des Gegenwärtigen genutzt werden kann: Die Geschichte ist vielleicht doch keine gerade Linie; sie bewegt sich zyklisch, fast in einer Spirale, lehrt uns der weise alte Mann aus den Bergen Boliviens.
Was ist mit der Zukunft im spiralen Modell der Zeit?
Und was ist nun mit der Zukunft? „Ach, die Zukunft“, sagt Miranda leicht herablassend, während er die typische Handbewegung über die Schulter macht: „Die Zukunft? Niemand hat sie je gesehen. Die Zukunft erübrigt sich.“
Irren Menschen mit dieser Interpretation der Zeit wirklich am Ende des Tages ohne Plan und Verstand durch die Welt, durch ihr und unser aller Leben? Leben sie wirklich ohne Logik und Verstand und irren dadurch ziellos durch die Geschichte? Oder sind wir es vielleicht? Wir mit unserem dualen Denken, das wir durch unseren Freund, den Computer gelernt haben. Ein Denken, das in einer Welt zwischen null und eins, linear und dual stattfindet. Schmeißen wir vielleicht dabei etwas grob fahrlässig über unsere Schulter, das wir – und nur das – wirklich bewusst gestalten und verändern können? Nämlich die Gegenwart?
Die Amyra dagegen denken nicht dual, sie denken trivalent. Alles, was sie nicht selbst erlebt haben und erfahren haben, ist für sie mehr oder weniger ungewiss. Amyra werden in diese Logik hineingeboren und leben in dieser Welt. Sie sind es von Kindesfüßen an gewohnt, mit solchen für uns uneindeutigen Informationen klar zu kommen und sie können dabei etwas, dass in unserer Welt nur Chaostheoretiker oder ausgewiesene Wahrscheinlichkeitsmathematiker können: Sie ziehen aus diesen unsicheren Vorgaben ganz präzise Schlüsse für ihr tägliches Handeln.
Einverstanden! Spirales Denken mag auf den ersten Blick, aus unserer Sicht, aus unserem Denkmuster heraus, sehr anstrengend sein, was es aber auf jeden Fall macht, es erweitert den Horizont.
Neues Wagen – Um Ecken blicken
Leben heißt Veränderung, doch es gibt keine echte Veränderung ohne neue Entdeckung – Entdeckung um die Ecke meist.
Denn hinter jeder Ecke liegt in der Regel Neues verborgen. Man muss sich nur die Mühe machen, auch mal vermeintlich nicht nur um die Ecke zu blicken, sondern von Zeit zu Zeit auch um sie zu denken, auch wenn es auf den ersten Blick widersinnig erscheint.
Vielleicht muss man die Logik unserer indianischen Freunde auch nur lange genug verinnerlichen, damit alles einfacher wird. Für einen Amyra, schreibt brand eins, gibt es nicht nur „Ja“ oder „Nein“. Er bewegt sich ständig dazwischen. Wer nur die Vergangenheit kennt und nicht in die Zukunft blicken möchte, könne auch keine Pläne entwickeln und sich konkrete Ziele setzen, stempeln die meisten von uns das Denken der Amyra ab. Für die Amyra dagegen ist dieser Schwebezustand essentiell, sie brauchen das Offene, das Sowohl-als-auch. Nur dann und nur dann, können sie handeln, abwägen und ausprobieren, das Schlechte verwerfen und das Gute behalten. Sie können sogar etwas für unsere Augen komplett Irres, eine komplette Kehrtwende vollziehen, ohne sich dabei in logische Widersprüche zu verstricken.
Es geht also doch. Vielleicht sollten wir es ja mal ausprobieren. Was nämlich auf den ersten Blick aussieht, als würde alles nur nach Versuch und Irrtum ausprobiert, hat doch einen ganz klaren und sicheren Mittelpunkt: das gute Leben.
Gemeint ist damit, die gemeinsame Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse jenseits des rein Materiellen und Wirtschaftlichen.
Vielleicht liegt ja um die Ecke doch die eine oder andere Lösung für die drängenden Probleme der Zeit verborgen, wer weiß?
Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viele mäandrierende Stunden und ein gutes Leben natürlich.
Ihr
Ulrich B Wagner
Über Ulrich B Wagner
Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.
Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.
Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).