„Die selben Faktoren, die so in der Exaktheit und minutenhaften Präzision der Lebensform zu einem Gebilde von höchster Unpersönlichkeit zusammengenommen sind, wirken andererseits auf ein höchst persönliches hin. Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit (Eitelkeit, Dünkel, Hochnäsigkeit).“
Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben
Mittendrin und nicht dabei
Drinnen im Draußen oder Draußen im Drinnen, das Eine oder das Andere? Macht der Versuch der Anstrengung, der anstrengenden, verlogenen, fast nervenden Unterscheidung eigentlich überhaupt noch Sinn? Oder sollten wir vielleicht nicht doch alle erst einmal einen Tee zusammentrinken?
Naja, als irgendwie Mittendrin und nicht dabei, könnte wahrscheinlich nicht nur ich allein, das Gefühl beschreiben, das einen angesichts der chaotischen Umstände im eigenen Umfeld, aber auch in der mich und meine Lebenswirklichkeit nicht nur umschließenden, sondern auch einwirkenden Umwelt(en) befällt.
Wir, die Kinder der Individualisierungstheorie, dem Versuch der Auflösung traditionaler Werte, Lebens- und Arbeitsformen im Zuge einer neuen Vielfalt, aber auch der Öffnung vermeintlicher Möglichkeitsräume, insbesondere durch die kollektive Nivellierung ehemals nicht nur geglaubter, sondern in Gesetze und Normen gegossener Konstruktionen der Wirklichkeit, als Selbstläufer, als sich selbstregulierende Kräfte zu betrachten, dürfte sich spätestens jetzt nach dem Brexit-Votum der Briten als fataler Irrtum herausstellen.
Die vermeintlichen Wahrheiten haben sich ins Nichts verabschiedet
Vielleicht ist es ja auch etwas Einfacherem geschuldet: Der erzwungenen Einsicht in die Zufälligkeit unseres Seins. Existenzialismus zum Anfassen also oder so ähnlich halt?
Das Eindringen der Anderen, der Flüchtlinge, der Europäischen Union – und auch der anderen „Weltbürger“ nicht nur virtuell und/ oder in seiner Komplexität reduziert und bereinigt, sondern in Echtzeit und Leibhaftigkeit führt zu andauernden Angstzuständen und nicht nur spontaner Unsicherheit. Die vermeintlichen Wahrheiten scheinen sich nicht nur, sondern und das ist das Tragische daran, haben sich bereits ins Nichts verabschiedet. Nur spüren tun wir es erst jetzt.
Auch der letzte scheint nunmehr zu spüren, dass sie/ er selbst so wie sie sind nichts Absolutes sind, nicht mehr nur die Einzige, selig oder auch nicht allein seligmachenden Wahrheit, sind.
Dass das Andere, sich selbst auch als etwas ganz Besonderes empfindet, das alles und das nicht nur erst am Ende des Tages etwas fast Beliebiges, ja Veränderliches ist, sondern mich selbst sogar eingeschlossen vielleicht sogar etwas rein Zufälliges ist.
Der Andere wird zur Bedrohung
Bin ich als Einzelner, die Gemeinschaft, die Gesellschaft, in der ich lebe, allen ernstes etwas Zufälliges? Wer bin ich wirklich, wenn ich auch nur etwas Anderes für andere bin, etwas Zufälliges gar? Bin ich dann allen Ernst bloß eine von vielen Möglichkeiten, einer von vielen, möglichen Entwürfen, eine bloße Variante gar?
Es muss mit Gewissheit als Sicherheit angesehen werden, dass Menschen von Innen heraus getrieben, nach Orientierung und Fixpunkten, aber auch nach einem positiven Selbstbild, aber auch Selbstgefühl streben.
Der Mensch an sich, was im Trubel des Selbstverständlichen halt häufig verschüttet geht, hält es nun mal nicht aus, wenn sein/ ihr Selbstgefühl nicht nur leidet, sondern schon – und das nicht nur sprichwörtlich, sondern leibhaftig – verschwunden ist.
Der Andere wird zur Bedrohung. Wie durch einen Computervirus befallen scheinen die Hirne erobert und nicht nur in Beschlag genommen, sondern umprogrammiert, dass es gegen jegliche Beeinflussung von Außen immun ist: Gekapert vom Virus der Selbstabschaltung.
Eitelkeit wird somit nicht nur zum bestimmenden Merkmal und das im Zuge der Internetrevolution nicht nur der des Großstadtmenschen, sondern auch zur fatalen Wahrnehmungstäuschung aller, da sie durch die Unfähigkeit bestimmt ist, auf die Vielfalt der Außenwelt angemessen zu reagieren.
Vielleicht hat der Brexit ja dann doch einen Sinn?
Einen Sinn darin, uns zu zeigen, dass die, wie der deutsche Soziologe Simmel, es Anfang des letzten Jahrhunderts im Zuge der damaligen alles durchspülenden Veränderung der Lebenswirklichkeit seiner Zeit, der Mangel an Differenzierungsfähigkeit oder wie er es nannte, „der Abstumpfung gegen Unterschiede der Dinge“ sich durch reine Interessenlosigkeit an der Vielfalt der Gegenstände um uns herum auszeichnet.
Die Bankenkrisen der letzten Jahre haben es, vermeintlich auf ihr Umfeld beschränkt, vorgelebt. Doch wie wir jetzt schmerzlich spüren, ist die Geldwirtschaft nicht nur Vorbild, sondern auch Triebkraft, denn das Wesen des Geldes besticht förmlich dadurch, dass es „alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufzuwiegen“ sucht.
Alles noch einigermaßen auszuhalten, oder meines Erachtens erträglich, wenn es auf klassische Waren, Objekte beschränkt bliebe, doch es ist im Zentrum des Wesentlichen, des uns Definierendem angekommen, in dem, was wir als des Pudels Kern unserer Gesellschaft, also unter Freiheit und Demokratie, bisher auf alle Fälle, verstanden.
Dinge verlieren ihren Wert
Fehlende Diversifizierbarkeit steht, nicht nur bei Simmel für „Farblosigkeit und Indifferenz, sondern wird zum fürchterlichen Nivellieren und höhlt damit den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.“
Durch die Möglichkeit des Kaufs verlieren Dinge gewöhnlich ihren eigentlichen, ursprünglichen Wert, der dann durch einen rein nominalen ersetzt wird.
Diversifikation und Differenzierung, wie sie gerade für uns Zeitgenossen, nicht nur in Form des Internets erfahrbar, sondern zu unserem Leidwesen mittlerweile auch in Form des Aufpralls, des Stillstands, schmerzlich wieder erfühlbar wird, muss dann auch das nicht Käufliche einschließen und zwar in der Form, dass es auch als nicht Käufliches einen Wert besitzt und dann auch wieder fest zugeordnet bekommt, der außerhalb des Nominalen liegt und mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Eine Tatsache, die wir hoffentlich realisieren bevor es zu spät ist.
Der Weg zurück ist sowieso verschlossen
Das Alte ist vorbei. Egal wie oder aus welcher Perspektive man es betrachten mag – und es ist mit Sicherheit auch gut so! Denn vieles was auf den ersten Blick darunter verstanden wird, wurde von den unangenehmen und schmerzlichen, das damit verbunden war, in unserem Gedächtnis bereinigt.
Wir müssen es nur tun und das bitte dann aber auch jenseits einer vermeintlichen Durchschnittlichkeit. Einer Durchschnittlichkeit, die mit Gewissheit auch ein Grund dafür ist, dass die repräsentative Demokratieform, wenn sie nur echt gelebt wird, die beste Staatsform darstellt.
Dem Rivalen Boris Johnson eine in die Fresse zu hauen, wie es der heutige liberale Premierminister von Kanada Justin Trudeau 2012 als politisches Leichtgewicht, dem es an Führungsstärke fehle, tat, als er mit dem konservativen Senator Patrick Brazeau in den Ring stieg, wäre keine Lösung für David Cameron gewesen. Das Referendum allerdings auch nicht.
Da hätte Cameron wohl mal besser auf seinen großen Vorläufer Winston Churchill hören sollen, als der sagte, dass das beste Argument gegen Demokratie ein fünf Minuten andauerndes Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler darstellt.
Wir brauchen Vielfalt
Eine echte Vielfalt im Großen wie im Kleinen. Nicht nur in Projekt- und Managementteams, sondern auch in unserer Wirtschaft und in der Form unserer Regierung. Wir brauchen ein echtes Europa. Nicht nur ein echtes Europa der Vielfalt, sondern der echten Interaktion zwischen Menschen. Denn das Wissen, das uns jetzt gerade zu fehlen scheint, entsteht erst aus Information die sich in Interaktion setzt. Und Information haben wir wohl in Zeiten von Google & Co. genug.
Eine Möglichkeit wäre es ja vielleicht … .
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Ihr Ulrich B Wagner