Am gestrigen Donnerstag hat uns alle ein Bild schockiert: Das Bild des ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi. Mit seiner Mutter und seinem fünfjährigen Bruder ist er aus dem umkämpften Kobanê in Syrien geflohen – mit dem Ziel, ein besseres, ein sicheres und freies Leben bei Verwandten in Kanada zu beginnen. Nun sind alle drei tot, ertrunken zwischen Kos und Bodrum.
In seiner heutigen Kolumne QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag macht sich Ulrich B Wagner Gedanken über die Macht der Bilder.
Gewalt entstellt, was sie vergewaltigt, sie entreißt dem Ding seine Form
und macht daraus nichts als ein Zeichen ihrer eigenen Wut.
Die Gewalt ist zutiefst dumm.
Jean Luc Nancy
Aristoteles sagt: Denn es muss auf das Ende kommen, welches der Wirklichkeit nach ist,
nicht der Möglichkeit nach. Das Ende aber kann der Anfang sein.
zitiert nach Durwen, Der Spiegel der Möglichkeiten
Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann
Francis Picabia
Bilder… Ein Bild, ein einziges bloß.
Bilder von verzweifelten Menschen, Bilder der Angst, BiIder von Menschen auf der Flucht. Bilder… Bilder des Hasses, Bilder pöbelnder, antisozialer Persönlichkeiten, Bilder des Leids, Bilder der Ratlosigkeit. Was tun sie mit uns. Was treibt sie? Wo weisen sie hin? Auf was oder wen verweisen sie gar? Bilder. Bilder, die in uns hineindrängen, sich ausbreiten und uns, einmal gesehen, nicht mehr nur nicht verlassen, sondern uns auch nicht mehr so zurücklassen, wie es einmal war.
Dass das Bild in seiner generellen, über die fotografierte Momentaufnahme hinausreichenden Wahrheit der Konstruktion einer zweiten Welt, einer anderen Realität des Wirklichen, über das auf den ersten Blick gezeigte hinausweist, verweist auf das vermeintlich Verborgene, das durch andere Verdeckte. Haben Bilder eine Funktion? Die Funktionen des Bildes als Seinsbereich des Imaginären gar, wie es die Philosophie wähnt? Ein Bild bloß… Das Bild eines kleinen toten Jungen am türkischen Strand. Ein Foto, das sich wie ein Lauffeuer am gestrigen Tag in allen Medien verbreitete. Es macht stumm. Es lähmt und beschleunigt zugleich zu einem stehenden Sturmlauf. Traurigkeit, die einem die Luft nimmt, die Sprache als Ausdruck unmöglich erscheinen lässt. Es verschlägt einem die Sprache. Was bleibt, bleibt stumm, weil alles, was Zeichen sein könnte, verbrennt und angesichts dieses einen Bildes nur verblasst.
Ein symbolisches Bild – und doch nur einer von vielen
Eine Stille, in der sich das andere der Bilder manifestiert. Es ist die Interpikturalität der Bilder, die die Einsicht zur Folge hat, dass das Bild des Jungen in seiner schmerzhaften Aktualität nicht nur auf vermeintliches, auf Gegenstände und Menschen, sondern auf andere Bilder, ja implizit auf die ganze Potenzialität des Bildprozesses verweist. Wenn ich mich recht entsinne, verweist dieser memoriale Zug des Bildes, laut Derrida, weniger auf die Wahrheit des Gewesenen als vielmehr die Wahrheit seiner immerwährenden Zeitlichkeit, als Passage im raum-zeitlichen Sinne, das heißt als Übergang und Durchgang zu anderen, latenten Bildern: erinnerten, assoziierten, imaginierten oder auch erfundenen Bildern. Ein Bild bloß: „Ein kleiner Junge liegt am Strand, das Gesicht im Sand, die Arme sind nach hinten gestreckt, sein rotes T-Shirt ist durchnässt. Der Junge ist tot. Dies ist eines von mehreren schockierenden Fotos, die derzeit um die Welt gehen. Sie zeigen ein ertrunkenes Flüchtlingskind, das an einem Strand im türkischen Bodrum angespült wurde. Ein weiteres Bild zeigt einen Polizisten, der den leblosen Körper vorsichtig vom Strand trägt. Der Junge war laut Medienberichten offenbar erst drei Jahre alt und stammte aus Syrien. Er ist einer von vielen.“ (DER SPIEGEL vom 03.09.2015)
Ein Bild bloß?
Ein Bild in seiner immerwährenden Zeitlichkeit. Ein Bild das bleibt. Bild bloß und doch so viel und bei dem vielen geht es immer auch um eine Forderung, eine hoffentlich unüberhörbare Forderung nach Gerechtigkeit für das ,Außen‘ all des Vergessenen oder Nicht-Gesehenen, den Namen- und Bilderlosen, aber auch gegen das ,Innen‘ einer geschlossenen Repräsentation, einer Deutung des Bildes aus unserer Welt, unserem Blick und unserer begrenzten Repräsentation der Wirklichkeit.
Ich kann es nicht sagen, ich weiß es schlicht nicht. Es macht hilflos und es macht Angst und all das, was gerade an Lösungen, an Erklärungen, aber auch an Antworten darüber hinaus angeboten wird, von Medien, der Politik, den anderen – es reicht nicht. Es ist weder Beruhigung noch Hoffnungsschimmer. Es ist ein Pfeifen bloß, das Pfeifen im Walde, in dem der Pfeifende den Wald vor lauter Bäumen, den selbst im eignen Kopf gepflanzten Bäumen, Richtschnüren und Vorannahmen nicht mehr erkennen kann.
Wir gehen in die Irre
Wir haben uns verlaufen. Der Westen hat sich verlaufen, Deutschland hat sich verlaufen, die EU, Amerika, Russland, der Dschihad, die ISIS, sie alle haben sich verlaufen. Jeder einzelne von uns hat sich verlaufen. Fast erscheint es mir wie in dem Artikel aus DER SPIEGEL mit dem Titel: Ziellosigkeit als Reisetrend: Verirren für Fortgeschrittene. „Man sieht sie nur noch sehr selten, diese Touristen mit zerknittertem Stadtplan in der Hand, der sich im Wind wölbt, während sie an Straßenecken mit irritiertem Blick Norden und Süden suchen. Und dann garantiert in die falsche Richtung marschieren.
Das nämlich ist so im 20. Jahrhundert! Denn heute lassen wir uns auf Reisen von Satelliten und ihrem Global Positioning System steuern. Und die Kunst, sich mal richtig gediegen zu verirren, ist eine Art aussterbendes Handwerk. Doch seit einiger Zeit gibt es eine Gegenbewegung: Menschen, die sich verlaufen wollen. O-Ton: Es hat mich irritiert, wie anders sich auf einmal alle durch die Stadt bewegen. Mit dem Smartphone nehmen wir den Raum um uns herum nur noch indirekt wahr.“ (DER SPIEGEL 6/2015 )
Also wollen wir uns verlaufen…
Verlaufen kann sehr gut sein. Beim Verlaufen zeigt sich häufig das Neue, das Nichtgesehene, es zeigt auch die kontinuierliche Determininierung der Wirklichkeit durch unsere Pläne, Vorannahmen, unsere Fragestellungen und Wegweiser.
Verlaufen könnte eine komplette Neuausrichtung mit sich bringen, neue Möglichkeitsräume aufzeigen, das Neue, das bisher Undenkbare vielleicht möglich werden lassen.
Ja, es könnte, wenn wir …? Wenn wir loslassen würden. Wirklich loslassen würden. Es nicht nur ein Stück weghalten würde, sondern komplett wegwerfen würden, unsere Besitzstandswahrung, unser kontraproduktives Sicherheitsdenken, unser Vertrauen in die Wege der anderen. Dies gilt sowohl für das neoliberale, hippe, geleitete Verlaufen, in dem uns vorab jemand sagt: „Erstens: Gehe zur nächsten Bushaltestelle. Zweitens: Nimm den nächsten Bus, der gen Innenstadt fährt. Drittens: Steige nach zwölf Haltestellen aus“, als auch für das blinde Vertrauen in neoliberale Markttheorien, ihr Selbsheilungskräfte und das damit verbundene rationale Menschenbild und der Märkte. Mit solchen Anleitungen wird nicht das Neue gefunden, das Unerwartete entdeckt, sondern nur die alten Fehler in neue schicke Klamotten verpackt.
Wir müssen den richtigen Weg wieder finden
Es wird Zeit, dass etwas passiert. Es muss anders werden, wenn es gut werden soll. In Einbahnstraßen kann man sich schlecht verlaufen, und die Anleitungen der Finanzgurus und der Politik erscheinen mehr als gefährlich. Der Bertelsmanngründer Reinhard Mohn nannte das, was ich als ihr Arschloch-Verhalten bezeichne, einmal sehr milde das „auffällig häufige menschliche Versagen aufgrund stark übertriebener Eitelkeit“: Die meisten Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft gehen auf Arschlöcher zurück. Auf Narzissten und Psychopathen. Beide Typen sind fortwährend mit dem eigenen Ich beschäftigt, so dass sie die Befindlichkeiten anderer nicht wirklich berühren. Sie sind gefühlsblind und kalt. Für sie ist es am Ende des Tages wirklich nur ein Bild. Das Bild irgendeines Flüchtlingskindes, nicht mehr und nicht weniger. Nicht mehr als eine kurze Unterbrechung, ein Zucken des Augen und weiter geht’s.
Nur etwa vier Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind Narzissten und etwa ein bis zwei Prozent Psychopathen. Deren Anteil in Führungspositionen der deutschen Wirtschaft und in der Politik beträgt jedoch etwas mehr als sechs Prozent. Einverstanden, diese Damen und Herren sind nun beileibe keine Folterer, Killer oder Kidnapper, sondern hoch funktionale Leute mit eindrucksvollen Positionen und Titeln. Die britische Wissenschaftlerin Belinda Board nennt sie die „erfolgreichen Psychopathen“. Doch sie bestimmen in welche Richtung es weitergeht.
Es reicht!
Das Bestehende muss untergehen, damit das Neue nicht nur denkbar ist, sondern auch sichtbar werden kann. Ein Raum, in dem das Unmögliche nicht nur gedacht werden kann, sondern in dem auch das Verlaufen erst Sinn macht. Denn nur in diesem Raum kann es entstehen, das Neue.
Das Neue, das Unmögliche als Überlebenschance.
Wir sollten es versuchen. Was gibt es denn noch zu verlieren?
Ihr
Ulrich B Wagner
Über Ulrich B Wagner
Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.
Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.
Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).