Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung korrigiert: Kritik von EZB-Präsident Draghi an der Lohnentwicklung ungerechtfertigt
Seit dem Beginn der Währungsunion sind die französischen Löhne im Einklang mit den Eckdaten der wirtschaftlichen Entwicklung gestiegen. Anders in Deutschland: Hier verletzte die Lohnentwicklung das Preisziel der Europäischen Zentralbank (EZB). Dass EZB-Präsident Mario Draghi jüngst trotzdem die französische Lohnpolitik kritisierte und die deutsche scheinbar als Maßstab nahm, beruht auf einem hoch problematischen Vergleich von nominalen und realen Werten, zeigt eine Analyse aus dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.
Kürzlich veröffentlichte die EZB Schaubilder aus einem Vortrag, den ihr Präsident Draghi Mitte März vor den Staats- und Regierungschefs der EU hielt. Sie scheinen zu belegen, dass Länder mit einem Leistungsbilanzüberschuss wie Deutschland oder die Niederlande eine höhere Produktivität verzeichneten als Defizitstaaten wie Spanien oder Frankreich. Und vor allem: Die Löhne seien in Staaten mit einem Leistungsbilanzdefizit weitaus stärker gestiegen als die Produktivität. Zu den Ländern, die auf diese Weise stark an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst hätten, gehört laut den Draghi-Charts auch Frankreich.
Andrew Watt, Leiter des IMK, hat sich Draghis Grafiken genauer angeschaut. Sein Ergebnis: Der EZB-Präsident vergleicht Äpfel mit Birnen. „Draghis Produktivitätsmaß zeigt an, wie viel mehr ein durchschnittlicher Beschäftigter im Jahr 2012 real produziert hat, verglichen mit dem Jahr 2000. Bei der Lohnentwicklung hingegen zeigt Herr Draghi nominale Werte“, erläutert Watt. Mit anderen Worten: Bei der Darstellung des Produktivitätsmaßes ist die Teuerungsrate abgezogen, bei der Entgeltentwicklung nicht. Daher falle die Lohnkurve auf den Charts viel höher aus als bei einer Darstellung auf gleicher (realer) Basis, betont Watt. „Das muss man bei dieser sehr ungewöhnlichen Darstellung im Hinterkopf behalten.“
Um die Argumentation des EZB-Präsidenten näher zu überprüfen, hat Watt nachgerechnet, wie stark die Entwicklung der nominalen Löhne die der realen Produktivität überschreiten dürfte, ohne das von der Zentralbank aufgestellte Inflationsziel zu verletzen. Ergebnis: Bei einer Inflationsrate im Einklang mit dem Preisziel der EZB – unter, aber in der Nähe von 2 Prozent – müsste die nominale Lohnentwicklung jährlich um etwa 1,9 Prozent höher als das Produktivitätswachstum sein. Innerhalb der zwölf Jahre seit Beginn der Währungsunion wäre dieses Plus auf fast 28 Prozent angeschwollen.
Gute Nachrichten für das von Draghi an den Pranger gestellte Frankreich: Hier liegt der Unterschied zwischen nominalem Lohnwachstum und realer Produktivität bei 32 Prozent – das Land erfüllt die Vorgaben also nahezu perfekt“, erläutert der Wissenschaftler. Auch in anderen Defizitländern würde sich der von Draghi monierte Wettbewerbsnachteil entsprechend reduzieren. Unter Berücksichtigung der Zielinflationsrate der EZB wäre er damit nicht verschwunden, aber um einiges kleiner.
Viel wichtiger sei jedoch ein weiterer Befund: „Deutschland hat die Stabilitätsvorgaben für ein ausgeglichenes Wachstum in einer Währungsunion systematisch unterlaufen – und damit entscheidend zur Eurokrise beigetragen“, schreibt Watt. Denn die deutschen Nominallöhne wuchsen über Jahre hinweg nur mit der realen Produktivität, also ohne jeglichen Inflationsausgleich.
Wenn der EZB-Chef suggeriere, Deutschland sei ein Modell für den gesamten Währungsraum dann führe er Politiker auf einen gefährlichen Irrweg, warnt der Leiter des IMK. Denn in einem Land, das die nominale Lohn- an die reale Produktivitätsentwicklung koppelt, geht der Anteil der Löhne am Volkseinkommen permanent zurück. Wäre die Inflation höher als der nominale Lohnzuwachs, würden sogar die preisbereinigten Löhne fortlaufend sinken. Nur dort, wo die Reallöhne sich in Anlehnung an die Produktivität entwickeln, bleiben die Anteile der Arbeits- und der Kapitaleinkünfte am Volkseinkommen konstant.
(Hans-Böckler-Stiftung)
Weiterführende Informationen:
– Andrew Watt: Mario Draghi´s Economic Ideology Revealed? In: Social Europe Journal
– Reallöhne in Deutschland 2012 +0,5%, Durchschnittseinkommen 3.385 Euro, Stundenlohn 19,33 Euro
– Gender Pay Gap: Deutschland mit 22% Negativbeispiel in der EU
– Private Konsumausgaben deutlich gestiegen, am meisten für Wohnkosten, Schere geht auseinander
– 14 EU-Länder erhöhen Mindestlohn: In Westeuropa zwischen 8,65 und knapp 11 Euro