Mythos Frühaufstehen Oder: Der frühe Vogel kann mich mal…!

AGITANO-Kolumnist Ulrich B Wagner hält nicht viel von Frühaufsteher. Die Infografik: So werden auch Sie zum Morgenmensch wird daran auch nichts mehr daran ändern. Sein heutige Beitrag aus der Reihe „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ stellt ein Plädoyer für die Spätaufsteher dar, die in unserer Gesellschaft zunehmend stigmatisiert werden.

„Der erste Vogel erwischt den Wurm – aber die zweite Maus kriegt den Käse!“

unbekannter Verfasser

„Früh zu Bett gehen und früh aufstehn nützt dir gar nichts, wenn du es nicht allen verkündest.“

amerikanisches Sprichwort

Kein Respekt vor dem Allerheiligsten

Einverstanden. Jeden Tag wird irgendwo auf Gottes Erden mindestens eine Sau durchs Dorf getrieben. Das wusste auch schon meine Oma. Dass man sie nunmehr aber auch noch durch unsere Schlafzimmer treiben muss, ist einfach mörderisch. Kann der Tugend- und Funktionswahn unserer vermeintlichen Eliten nicht wenigstens vor unserem Allerheiligsten halt machen?

In der letzten Zeit werden wir, die wir nicht vor dem Aufstehen schon wach und unsere Karriere im Blick haben, obwohl wir die unterdrückte Mehrheit sind, stigmatisiert, benachteiligt und ausgegrenzt. Und dies nicht erst seit gestern.

Morgens als Kind zu nachtschlafender Zeit um 07.45 Uhr die Schulbank drücken, neben sich zu allem Überdruss auch noch einen der wenigen „auserwählten“ Frühmenschen auf der Schulbank. Die einschlägige Forschungsliteratur nennt diese Spezies liebevoll Lerchen, und uns, die wir, schau her, immerhin fast 75 Prozent der Bevölkerung ausmachen, Eulen. Uns, die wir nicht unter seniler, oder einer sonst wie gearteten nächtlichen Bettflucht leiden.

Frühaufstehen fördert die Karriere

Ob Gruppenzwang, Pflichtbewusstsein oder die innere Uhr: Bettflucht scheint angeblich zu wirken, folgt man der einschlägigen Berichterstattung der letzten Wochen. „Frühaufsteher machen Karriere“, sagt beispielsweise der Biologe Christoph Randler, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Die Studien von Randler und seinen Kollegen zeigen, dass Frühaufsteher aktiver sind, ein höheres Leistungsvermögen und Verantwortungsgefühl haben. Gleichzeitig harmonisieren die sogenannten Lerchen, da schau her, stärker mit den zeitlichen Abläufen in Unternehmen. Zu guter Letzt gelten sie auch noch als besonders aktiv und diszipliniert durch ihr frühes Aufstehen. Früh kann dabei für viele nicht früh genug sein, wie wir später noch sehen werden.

Ich für meine Person verbrachte meine Kindheit und insbesondere meine  Pubertät, wenn es gut lief, im Halbschlaf, zumindest in der Schule. Die einen oder anderen interessanten Dinge des Lebens kamen ja dann glücklicherweise zu einer späteren Tageszeit. In meiner Erinnerung liege ich, meine armen Eltern haben dafür auch noch Schulgeld bezahlt, mit dem Kopf auf der Tischplatte und starrte in den wenigen luziden Momenten verträumt auf die Königsteiner Burg.

Diskriminierung der schlafenden Mehrheit

Über Jahre hinweg habe ich gedacht, dass ich an allem Schuld bin. Bis ich nun erfuhr: In der Pubertät gerät der Schlafrhythmus durcheinander. Für einen 16-Jährigen, und nicht nur ab dieser Lebensphase, ist es eine Zumutung, um 08:00 Uhr morgens irgendeinem Unterricht zu folgen, hat der Schlafforscher Göran Hajak eindrucksvoll mit seiner Forschung bewiesen. Trotzdem verlegt kaum eine Schule die Anfangszeit des Unterrichts auf einen menschlicheren, gesünderen und eindeutig für die Mehrheit der Menschheit lernfreundlicheren Zeitpunkt. Nicht ohne Grund wie sich nunmehr herausstellte.

Denn: Aufgemerkt! Diejenigen, die früh aufstehen, sind gar nicht etwa besonders leistungsstark oder fleißig – die Eigenschaft morgens fit zu sein, ist nämlich, ähnlich wie beispielsweise die Haarfarbe, schlicht und ergreifend angeboren. Aber mit ihrem Kartell bestimmen die Frühaufsteher, dass andere Menschen auch früh aufstehen müssen, indem sie die Öffnungszeiten der Ämter Schulen und Betriebe so festlegen, wie es ihrer Bettflucht entspricht. Bis wir Eulen, immerhin eine altgriechische Symbolfigur für Weisheit, Besonnenheit und Ausgeglichenheit, dann im Saft stehen, haben diese AHS gestörten Frühaufsteher schon fatale, gesamtgesellschaftliche Fakten und sich selbst so nebenbei einen angeblich „gerechtfertigten“ Wettbewerbsvorteil geschaffen.

Die Leute essen und schlafen zu viel

Business ist und bleibt Showbusiness. Klappern gehört halt nun mal zum Handwerk. Was das zu bedeuten hat, wenn nunmehr scheinbar die gesamte Wirtschaftselite unisono ausruft: Schlafen ist für Loser, lässt bei mir die Alarmglocken auf alle Fälle lauter klingen. Wir werden landauf und landab und über alle Landesgrenzen hinweg von Schlaf-Zombies drangsaliert, geknechtet und ausgegrenzt:

„Baby-Unternehmer Claus Hipp: Für ihn endet nach eigenen Angaben die Nacht um 04:30 Uhr. Bei Nacht und Nebel sperrt er morgens eine nahegelegene Kapelle auf, dann geht es weiter in die Firma. Lediglich samstags schläft er aus bis 07:00 Uhr, schon am Sonntag geht es wieder früh raus und in die Münchner Frauenkirche, wo er als Ministrant in der Frühmesse assistiert.

Virgin-Chef Richard Branson steht seit Jahren gegen 05:00 Uhr auf. »In den 50 Jahren, die ich im Geschäft bin, habe ich gelernt, dass ich viel mehr erreichen kann in einem Tag, wenn ich früh aufstehe.« Den fehlenden Schlaf versucht Branson wann immer es geht nachzuholen – meistens, wenn er im Flugzeug unterwegs ist.

Wenn Harriet Green, Ex-Thomas-Cook-Chefin, gegen 07:00 Uhr im Büro ankam, hatte sie schon ein volles Programm hinter sich: Ab 03:30 Uhr schrieb sie E-Mails, danach gönnte sie sich etwas Müßiggang und las Bücher bevor es dann zur körperlichen Ertüchtigung ging: Ab 05:30 Uhr wurden mit dem Personal Trainer, einem Ex-Soldaten, Hanteln gestemmt. Ob sie nun, des Amtes bei Thomas Cook enthoben, sich etwas mehr Schlaf gönnt? Aktiv und umtriebig, wie Green ist, wohl eher nicht. Nicht zuletzt war sie es, die den Spruch pflegte: »Ich glaube generell, die Leute essen und schlafen zu viel.« (vgl. SPIEGEL-Online).

Frühaufsteher leben gefährlich

Ein fataler Trend, denn Studien zeigen, dass zu wenig Schlaf die Kernkompetenzen von Führungskräften aushebelt. Müde Menschen agieren wie Betrunkene: bei regelmäßig weniger als fünf Stunden Schlaf sinkt die Entscheidungsfähigkeit um 50 Prozent, die Gedächtnisleistung lässt um ein Fünftel nach.

Verhaltenstests und Hirnuntersuchungen haben gezeigt, dass Schlafentzug zu erhöhter Risikobereitschaft führt. Und es ist beileibe kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Menschen, die gegen ihre innere Uhr zu leben gezwungen sind, werden dick, dumm und krank. Kurzum: Sie leben gefährlich (passend dazu: Wie Schlafentzug Ihrer Gesundheit schadet).

Sie neigen dazu, mangelnde Energie mit hochkalorischen Lebensmitteln zu kompensieren. Sie leiden an Konzentrationsschwäche und tragen ein erhöhtes Risiko, etwa an Herz-Kreislauf-Beschwerden, Bluthochdruck, Arthrose und Diabetes zu erkranken. Sie sind auch anfälliger für Konsumgifte, wie Alkohol und Nikotin, und laufen zudem Gefahr, durch den sogenannten Sekundenschlaf häufiger Unfälle zu verursachen oder sich an Maschinen zu verletzen.

Und vier Stunden pro Nacht, da sind sich alle Experten einig, sind auf Dauer eindeutig zu wenig. Einige Studien haben gar gezeigt, dass bei Vielfliegern, die unter mangelnden, unregelmäßigen Schlaf leiden und sich häufigen Jetlags aussetzen, sogar die Gehirnmasse abnimmt.

Wir Morgenmuffel werden demnach zwar gerne belächelt und müssen uns noch immer den an der Bartwickelmaschine verknoteten Spruch aus dem Erziehungsratgeber der Tugendbolde „Der frühe Vogel fängt den Wurm!“ über uns ergehen lassen, obwohl wir locker auf die neuste Schlafforschung verweisen und kontern könnten: „Ja, und der späte Wurm überlebt …“. Unser einziges Problem? Wenn wir zur Höchstform auflaufen und abends noch einige Stunden dranhängen, schaut von denen halt eh keiner mehr zu.

Albert Einstein soll zehn Stunden Schlaf gebraucht haben, um fit zu sein. Wer von uns will ihm das zum Vorwurf machen?

Ihr
Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner

Ulrich B Wagner, irrsinn, das positive denken
(Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

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