… von Ulrich B Wagner aus seinem „stundenbuch – Zeiten der Einkehr“.
Im 1. Teil der Vorüberlegungen hat Ulrich B Wagner über den „Aufbruch“ geschrieben. Im 2. Teil ging es über die Nutzung des Stundenbuchs. Der heutige Teil 3 der Vorüberlegungen hat den Titel „Über die Grenzen„.
Was bedeutet uns das Wort Grenze? Welche Bilder treten vor unser inneres Auge? Was bewegt uns und was wird vielleicht mit diesem Wort in uns geweckt?
Ich möchte Ihnen daher zu Beginn unserer Reise einige Überlegungen zum Thema Grenze anbieten. In dem Wort Grenze schwingt für mich persönlich immer auch der Begriff des Abenteuers, des Neuen und der Andersartigkeit mit. Bilder des Aufbruchs, der Vorfreude auf Neues, ja fast eine kindliche Neugier stellt sich bei mir ein. Schließlich haben Grenzen auch etwas mit Kämpfen, Schutz und Rückzug zu tun. Es gibt Spezialisten, die als Schmuggler, Flüchtlinge, Händler, Weltenbummler, Troubadoure, Schriftsteller, Tänzer, Musikanten, Yogis u.v.a. in oft höchst geschickter Weise mit Grenzen umzugehen wissen und dabei mitunter sehr gefährliche Abenteuer erleben. Doch Grenzen sind für uns im Alltagsgebrauch auch etwas gewöhnliches und auf den ersten Blick selbstverständliches.
Doch neben der Fragen wem oder was nützen sie, sollten wir uns auch hier die Frage stellen: Was tun sie in sich, was bringen sie hervor, für was stehen sie? Grenzen werden jeden Tag aufs Neue von uns geschaffen und treten in vielfacher Gestalt auf, als räumliche, soziale und zeitliche Grenzen. Grenzen sind somit etwas spezifisch Menschliches. Auch Tiere markieren ihre Reviere oder Plätze, sie vollführen dies jedoch in einer sehr direkten Art und Weise.
Wir hingegen ordnen unsere Welt durch Symbole und schaffen so eine eigene, ganz persönliche Welt. Im Zentrum des menschlichen Symbolschaffens steht schließlich die Vielfalt der von ihm erzeugten Grenzen. Sie gewähren ihm Schutz, sie garantieren ihm seine Besonderheit und schaffen Klarheit. Grenzen beschreiben das Innen und Außen, das menschliche Miteinander von Etablierten und Außenseitern, sie schaffen im negativen Sinne die Exklusion, das nicht Dazugehören des Ausgeschlossenen (der Ausgrenzung), auf der anderen Seite der Münze das Konzept der Inklusion, der Vereinnahmung und damit der Begrenzung des Lebensraums und der Definition des Ichs. Hier zeigt sich nun diese bemerkenswerte Dialektik. Der Mensch will Grenzen, aber andererseits ist er immer auch daran interessiert Grenzen zu durchbrechen, sie zu überblicken und mehr oder weniger listenreich zu dehnen, zu überschreiten oder einfach nur zu ignorieren. Dort wo es natürliche Grenzen gibt, wie Gebirge, Meere und den Tod, versieht der Mensch sie mit Symbolen und Ritualen. Somit weisen auch sie schließlich den Charakter des Geschaffenen auf. Grenzen werden zu künstlichen Orientierungslinien, durch die der Mensch symbolisch festgelegte Unterbrechungen von Vorgegebenen erschafft.
Wir benötigen Grenzen, um das Leben in seiner Komplexität und seiner fast grenzenlosen Möglichkeitsraum in nicht allzu großen, noch genießbaren und verdaulichen Teilstücken erfahrbar zu machen. Grenzen sind die Marker und Richtanker, die uns Rückmeldung über uns geben und uns so eine Identität schenken. Denn erst durch Abgrenzung und Ausgrenzung entsteht Identität und Persönlichkeit.
Das gleiche gilt für die Zeit. Um beispielsweise dem Zeitablauf eine gewisse Ordnung zu geben, zerstückeln wir den kontinuierlichen Fluss der Zeit in Jahre, Tage und Minuten. Wir schaffen Intervalle, um uns symbolisch und begrifflich über den Prozess des zeitlichen Fortschreitens Klarheit zu verschaffen. Folgen wir dabei anfänglich noch einem Natur gegebenen Lebensrhythmus, unserer inneren Uhr, so schaffen wir im Laufe der Jahre immer mehr diese zu einem künstlichen, äußeren Zeiterleben. In dem die Zeit losgelöst von uns zu existieren erscheint. Verbinden wir diese anfänglich noch mit Symbolen und Konnotationen, die für uns fühlbar sind und uns durch das Leben begleiteten. Nach und nach werden diese für uns nicht mehr lesbar und verlieren ihre allgemeine Gültigkeit. So muss jeder einzelne für sich selbst erneut Symbole und Rituale finden, die ihm zeitliche und geistige Abgrenzungen ermöglichen.
Faszinierend für mich sind jedoch auch immer wieder die bewussten Überschreitungen von Grenzen und deren Verbindung zu den die Grenzüberschreitung begleitenden Ritualen. So wie die Grenze an sich Ordnung definiert, so ordnet wiederum das Ritual die Grenzverletzung, das Hinüber schreiten in eine andere Wirklichkeit und macht diese damit für den Einzelnen erfahrbar. Es ist somit charakteristisch für Grenzen, dass sie nicht exakt sind, denn sie sind immer künstliche Unterbrechungen von etwas von Natur aus Kontinuierlichem. Auch die Zeit ist etwas Kontinuierliches, erst der Mensch teilt sie ein, ordnet sie und fügt sie in Grenzen. Dazwischen gibt es jedoch immer auch ein Vages, die twighlight zone, das in between der Ordnung, das Tiefe und Verschobene, das direkt unter der Oberfläche des Geordneten schlummert. Es gibt die geschaffenen Zwischenräume, die Niemandszeit des Sonntags als Grenze zwischen zwei Arbeitswochen oder das Niemandsland, welches symbolisch die Trennung von Staaten anzeigt. Das ganze Leben verläuft hierdurch mäandrierend – abweichend von einer geraden Linie, es gleicht von oben betrachtet eher einem fortwährenden Ausschlenkern und Neu-Orientieren.
Auf der gemeinschaftlichen Ebene des biographischen Lebens ist dies, wie ich meine, durch uns sehr selbstverständliche Ankerpunkte gekennzeichnet, wie beispielsweise Geburtstage, Einschulung, Volljährigkeit, Hochzeiten und Begräbnisse. Durch die damit verknüpften Rituale werden Niemandszeiten oder Übergangszeiten, Grenzen in unserer sozialen Zeit, angedeutet. Solche Niemandszeiten und Niemandsländer sind von großer symbolischer Bedeutung. Sie trennen Räume und Perioden, sie haben zumeist den Anschein des Heiligen, des Unberührbaren, des Tabus und des Schutzes.
Die Entfernung von der Natur mit der Betonung des Verstandes und der Vernunft, der «Entzauberung der Welt» (Max Weber) haben uns in alltäglichen Lebensfragen enorm geholfen und das Leben freier, planbarer und vielleicht auch auf die eine oder andere Weise einfacher gemacht. Auf der anderen Seite hat uns diese Entzauberung auch von einer natürlichen, von der Natur bestimmten Form des Erlebens entfernt. Diese bewussten oder unbewussten, ehemals durch Naturkräfte bestimmten, fast selbstverständlichen Räume des Außeralltäglichen müssen nun durch jeden Einzelnen in mühsamer Selbstfindung neu gezogen und definiert werden, um sich als sinnhaftes Ganzes in der Welt zu empfinden. Denn fehlen exakte Grenzen, ob psychologische wie Selbstkonzept und/oder eine eindeutige Persönlichkeitsbeschreibung, als auch soziale wie geografische, so kann es zur Verunsicherung, Verwirrung und Konflikten kommen. Es ist somit im menschlichen Leben als auch im sozialen Miteinander von existentieller Bedeutung durch Symbole Grenzen zu verdeutlichen und deren Überschreiten mit Ritualen zu versehen.
Grenzen sind somit etwas Ambivalentes. Zum einen schafft sie der Mensch, um sich zu schützen, um sich zu verbergen und Ordnung zu gewährleisten bzw. soziales Miteinander planbar und damit menschliche Kommunikation und Handeln möglich zu machen, zum anderen stacheln sie seine Neugierde unablässig an, sind sie ein fortwährender Anreiz, um mit allerhand Tricks und Kniffen überschritten zu werden, um hinter sie zu blicken oder um insgeheim etwas über sie hinüberzuschaffen. Darin liegt das eigentlich Spannende im Menschen, denn ohne diese Neugierde und ohne die Lust an der Grenzverletzung und der damit einhergehenden Veränderung würden Menschen und Kulturen immer im gleichen Zustand verharren. Diesem Wechselspiel von Begrenzung und Entgrenzung möchte das Stundenbuch sowohl durch seine Unterteilung des Tages als auch durch die Gedanken und Anregungen, Möglichkeitsraum sein, der jedem Einzelnen ein Finden und Wiederfinden des Einsseins in der Veränderung ermöglicht.
Ihr Ulrich B Wagner
Zum Autor:
Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.
Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.
Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.
Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).