Der Bleistift auf der Rolltreppe des Seins. Versuch über das Private im Zeitalter des Öffentlichen

Ist in Zeiten, in denen wir alles Mögliche und Unmögliche zu jeder Zeit posten, twittern oder sonst irgendwie mit aller Welt teilen können, der Rückzug ins Private überhaupt möglich? Und falls ja: Lohnt es sich? Kolumnist Ulrich B Wagner findet, dass dieser Rückzug heute wichtiger ist denn je. Nicht „nur“, weil die Qualität unserer Kommunikation leidet.

Was heißt schon modern?

Bleistift, Rückzug ins Private, Stille
Krachts „Der gelbe Bleistift“ bietet allen voran Fingerzeige des Augenblicks. (Bild: © Ulrich B Wagner / 2016)

Christian Krachts „Der gelbe Bleistift“ neben mir im Gras liegend, verliert sich mein Blick, sucht sich, dreht sich um, um dann im Innen hektisch den Lichtschalter zu suchen, hin zu den Regalen, Schubfächern, Kisten, Schachteln, Büchern und Sammelbänden des Erinnerns, der Vorbilder, Schilder und Wegweiser zu finden für heute, jetzt, für bloße Gegenwart, ein Hier und Jetzt. Nicht morgen oder übermorgen, das ergäbe sich dann wahrscheinlich schon fast allein.

Wo ist er hin, der „moderne“ Blick auf die Welt? Was heißt schon modern? Offen, neugierig und frisch mögen ausreichend sein, nicht bloß für den Augenblick. Die Rahmungen porös, unmodern, versperren den Blick, die Niedergerissene versperrt den Blick auf den Wald vor lauter stuporös einströmender Bäume.

Es war Joachim Bessing, der seinerzeit, vor langer, langer Zeit im Vorwort zu dem bereits im Jahr 2000 erschienenen Buch von Kracht schrieb, dass seine Texte keinem Handlungsfaden mehr folgen. Wollfäden gleich entrollen sie sich, unter den Blicken des geneigten Lesers, verlieren sich, verfangen sich bloß von Zeit zu Zeit wie Wollfäden im Dorngestrüpp, um so fortzuleben mit uns. Gewollt oder nicht. Sucht der Faden das Gestrüpp oder das Gestrüpp den von aller Aufmerksamkeit verlassenen Faden? Sei’s drum. Bilderfetzen, Halbsätze, leergedrehte Gedanken, Fingerzeige des Augenblicks.

Das Leben scheint sich zu verfasern zwischen all dem was wir tagtäglich wie Luft zum Atmen benötigen: Nicht nicht zu kommunizieren, sondern wieder so kommunizieren zu können, um sich (auch mit sich oder auch ohne sich #was mit Gewissheit im Auge des Betrachters liegen mag) zuhause zu fühlen: Daheim.

Alles flirrt, bewegt sich und fährt ohne Unterlass nach oben, um gleich wieder in einem schlichten Drehmoment sich abwärts zu bewegen. Rausgerissen aus dem Stand, scheint uns nur die Flüchtigkeit geblieben, schnell, ohne Atempausen, tut es was es will mit uns und ohne uns. Der Einzelne? Bloßes Beiwerk, kurzes Stör- oder Strohfeuer, mittendrin, doch irgendwie doch nie dabei.

Abweichung von der Diktatur der Gleichen

Geschichten mögen immer auch ein wenig Geschichte sein, zerren ein Bild, Welt-, Glaubens-, Gottesbild hinter sich her, merklich oder en passant. Manchmal scheint es jedoch nicht nur, sind sie jedoch wie im Falle Krachts, rückblickend gesehen, geniale Richtungsweiser, Blicköffner und Betrachtungen über den Teller des Gegenwärtigen hinaus, für den ebenfalls blinden Zeitgenossen, bleiben sie Lufttanznummer unter ziellosem Herumgestocher nach Raum, sicherem Raum,  das Bild vom Hafen der Heimat bleibt uns in der Regel dann doch in der Fovea centralis stecken.

„Krachts Sätze“, um nochmals Bessing zu bemühen, „umkreisen ein angenommenes Zentrum ein, ein Zentrum das leer bleiben soll bis zum Schluß. Dieses Zentrum ist der gedachte Ort der Stille und Reinheit. Dieser Platz ist für den Leser reserviert. Hier soll er zurückbleiben. Von dort soll er das nächste mal wiederkommen … .“

Krachts Zentrum ist das was wir Heimat nannten. Einen Ort in dem das Öffentliche und Private eine Ordnung hatte, die Sicherheit, Stabilität und Vertrauen ermöglichte.

Es gab sie die mehr oder minder feste Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Verborgenen, dem Privatem, dem Recht auf das Geheimnis und den Öffentlichen Raum, den Ort der Anderen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Welt an sich und der geschützten Welt des Einzelnen, seiner Identität und seinem Recht des Andersseins, der Akzeptanz und Toleranz der Abweichung von der Diktatur der Gleichen.

Auch wenn sich alles verändert, rasant, fundamental und vieles davon unrevidierbar, so bleibt es doch Evolution, Wandel, Um- und/oder Fortschreibung des Gleichen.

Es liegt an uns dem Privaten, dem Recht auf das Geheimnis, dem Stillen und Leisen wieder ein Zentrum oder auch zu dem Zentrum in unserem Leben zu machen.

Unsere Nerven, unsere Gesundheit, aber auch die Qualität unserer Kommunikation und unseres Miteinanders werden es uns danken.

Vielleicht hilft es ja auch wie bei mir geschehen, sich in den Bildern und Worten eines signifikanten Anderen wieder ein Bild von sich selbst zu (wieder)finden. Dem Perspektivenwechsel schadet es auf alle Fälle nicht. Was der Einzelne dann daraus macht, steht dann auf einer anderen Seite, die jeder Einzelne von uns dann erst mit seinen Wort(Bildern) zu füllen hat.

Mehr davon in meiner freitäglichen Kolumne unter dem Titel: Good Morning, Offenbach … !!!

Ihr Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?