Eintrittswahrscheinlichkeiten richtig einordnen: Das Kreuz mit der Statistik

Wenn ein unwahrscheinliches Ereignis – z.B. ein Lottogewinn – tatsächlich eintritt, dann heißt das nicht, dass die berechneten Eintrittswahrscheinlichkeiten falsch waren. Denn unsere Wahrnehmung täuscht uns in dieser Beziehung: Sich in Prozent ausgedrückte Eintrittswahrscheinlichkeiten vorzustellen überfordert unser Gehirn.

In seinem heutigen Beitrag zur Themenserie „Entschlossen – Erfolgreich – Entscheiden“ räumt Thomas Wuttke mit gängigen Fehlschlüssen in Bezug auf Eintrittswahrscheinlichkeiten auf und zeigt, wie wir mit Statistiken umgehen sollten.

Auch bei 20 Prozent Regenwahrscheinlichkeit kann ich nass werden …

Meine erste und sehr lebhafte Erfahrung mit Eintrittswahrscheinlichkeiten machte ich bei „Mensch ärgere Dich nicht“. In wie vielen Runden bin ich verzweifelt, weil mir keine Sechs gelingen wollte? Seither kann ich mir etwas unter einem Sechstel oder 17 Prozent vorstellen, aber auch, dass selbst 17 Prozent nicht bedeuten, nach sechs Würfen einen garantierten Treffer zu haben.

Neulich wurde bei einem Automobilkonzern eine Risikobewertung durchgeführt und diese Bewertung auch mit einem mathematischen Modell simuliert. Es ergab sich bei einem speziellen Risiko eine Eintrittswahrscheinlichkeit von circa einem Prozent. Drei Wochen später trat das Risiko tatsächlich ein. Schnell wurde der falsche Schluss gezogen: Die angenommenen Eintrittswahrscheinlichkeiten war falsch …

Das Ding mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten hat zwei Probleme:

  1. Wir verwechseln die statistischen Eintrittswahrscheinlichkeiten mit einem Versprechen eines einzelnen Vorkommnisses.
  2. Wir sind mental nicht auf Prozentzahlen getrimmt. Es erfordert jeweils einen gedanklichen Kraftakt, sich 43,6 Prozent vorzustellen. Und am Ende wird das Ergebnis dann doch auf „circa die Hälfte“ reduziert.

Statistik ist kein Versprechen

„Die Regenwahrscheinlichkeit in München beträgt heute 20 Prozent “. Interessant ist erst einmal die Frage, 20 Prozent von was? Quadratmetern? Zeit? Personen? Tropfen? Darüber machen wir uns aber keine so rechten Gedanken, wir nehmen vereinfachend mit: „Es wird wahrscheinlich nicht regnen“. Wenn wir trotzdem pitschnass werden, wird die Wettervorhersage gescholten. Es liegt aber nicht an der falschen Prognose. 20 Prozent heißt nichts anderes, dass es in vergleichbaren 100 Wetterkonstellationen 20 mal geregnet hat. Irgendwann zwischen 0 und 24 Uhr.

Für Ihren Besuch in München gibt es am Ende aber nur zwei Zustände: trocken oder nass. Die 20 Prozent verschwinden im Zahlenbrei der Statistik. Versuchen wir es mal mit Visualisieren: Sie legen fünf Ein-Euro-Münzen nebeneinander, alle mit der Zahl 1 nach oben. Diese fünf Münzen ergeben eine Länge von 12,5 cm. 20 Prozent bedeutet, dass eine der fünf Münzen umgedreht ist. Nun deuten Sie mit verbundenen Augen auf eine der Münzen. Kopf oder Zahl? 20 Prozent!

Wenn 20 Prozent also so wenig sind, warum spielt denn eigentlich überhaupt noch jemand Lotto? Die Wahrscheinlichkeit eines Sechsers ist circa 1 zu 14 Millionen. Um im Bild der Münzen zu bleiben: Das sind keine 12,5 cm, sondern sage und schreibe 322 km, von München über die A8 via Augsburg, Ulm, Stuttgart, Karlsruhe bis ans Walldorfer Kreuz. Ein Euro an den anderen gereiht. Und nur einer davon ist umgedreht.

„Ja, aber es gibt doch jede Menge Gewinner jedes Wochenende?“ Klar, es gibt auch jede Menge Spieler. Wenn jede Woche ca. 50 Millionen Spiele gemacht werden, sollte es – im Schnitt – 3 Mal im Karton klingeln. Tut es ja auch. Nur halt nicht bei Ihnen…

Wir können nicht in Prozenten denken – Eintrittswahrscheinlichkeiten richtig abschätzen

Sie haben eine Aktie gekauft, die 50 Euro gekostet hat und durch irgendwelche Einflüsse an der Börse auf einmal nur noch 20 Euro wert ist. Das ist ein Verlust von 60 Prozent. Frage an Sie: Wieviel Prozent muss die Aktie wieder zulegen, um zumindest auf die 50 Prozent zu steigen?

Ganz viele antworten auf diese Frage spontan: Na, 60 Prozent. Wenn die Aktie bei 20 Euro steht und 60 Prozent zulegt, dann steht sie (aber erst) bei 32 Euro. Nein, sie muss schon 150 Prozent zulegen, um wieder bei 50 Euro zu landen. Wenn man drüber nachdenkt, ist das verständlich. Emotional, unter Zeitdruck und spontan werden aber etliche danebenliegen. Solche Fehler sollte man mit seinem Ersparten nicht oft machen.

Noch schlimmer sind relative Prozentangaben. Stellen Sie sich vor, Sie haben 1000 Euro auf dem Sparbuch und bekommen dafür unglaubliche fünf Euro Zinsen für ein Jahr. Das entspricht 0,5 Prozent. Auch ohne Prozentrechnen wissen wir: Lächerlich wenig. Die Bank beschließt, in einer Charmeoffensive die Zinsen auf 0,6 Prozent anzuheben.

Wie würden Sie die Werbekampagne texten?

  • Nur heute: Statt 5 Euro bekommen Sie in einem Jahr 6 Euro!
  • Nur heute: 1 Euro mehr pro Jahr
  • Nur heute: 20 Prozent Zinserhöhung von uns obendrauf!

Es gibt unzählige Beispiele, wie Industrie, Werbung und auch die Politik munter mit den so genannten relativen Prozentsätzen spielt und vor allem manipuliert. Relative Prozentsätze können selbst lausigste Verbesserungen in neuem Glanz erstrahlen lassen.

Vier einfache Tipps

Auf die Schnelle hier vier Tipps, um den genannten Problemen zu entkommen und Eintrittswahrscheinlichkeiten besser abschätzen zu können. Zumindest ein bisschen:

  1. Visualisieren Sie sich, wo es nur geht, eine Prozentangabe. Am Besten mit den Euro Münzen. 1 Prozent entspricht 100 Münzen, 2,30 Meter lang, eine davon ist umgedreht.
  2. Verwechseln Sie niemals Statistik und ein einzelnes Vorkommnis. Es gibt auch Leute, die im Lotto gewinnen. Der Eintritt eines unwahrscheinlichen Ereignisses ist nicht der Beweis, dass die angenommenen Eintrittswahrscheinlichkeiten falsch waren.
  3. Vorsicht vor Entscheidungen auf Basis statistischer Glättungen. Gehen Sie niemals durch einen Fluss, der im Schnitt 1,20 Meter tief ist.
  4. Vorsicht – und zwar in jedem Fall – vor relativen Prozentangaben. Übersetzen Sie jede relative Prozentangabe in absolute Zahlen. Und entscheiden Sie dann auf Basis dieser Zahlen.

Ja, so ist das mit den tieferen Einsichten in die Eintrittswahrscheinlichkeiten. Und das nächste Mal erfahren Sie, warum die wahre Kunst der Entscheidung im Realisieren von Verlusten zu finden ist!

Ihr
Thomas Wuttke

Über Thomas Wuttke

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Experte für Risikomanagement Thomas Wuttke. (Bild: © Thomas Wuttke)

Thomas Wuttke ist Speaker, Trainer, Manager, Dozent, Autor und Experte für Risikomanagement und erfolgreiche Entscheidungen. Er hatte über lange Jahre zahlreiche hohe nationale und internationale Managementpositionen inne. Der Herzblut-Unternehmer ist seit Mitte der 80er Jahre selbstständig. Kurz nach dem Studium gründete er seine erste Firma, ein Softwarehaus. Über ein Dutzend Firmen hat er seitdem ins Leben gerufen, gekauft und wieder verkauft. Mit dickem Plus aber manchmal auch mit schmerzhaften Minus. Thomas Wuttke weiß, wovon er spricht, wenn es um Risiken und harte Entscheidungen geht. Ganz nach seinem Motto „Entschlossen – Erfolgreich – Entscheiden“ legt er dar, wie wichtig es ist, Risiken zu erkennen und bewusst einzugehen. Denn: keine Entscheidungen zu treffen bringt garantiert auch keinen Erfolg. Die Zuhörer der Vorträge von Thomas Wuttke schätzen die Kombinationen aus tiefem Erfahrungsschatz, profunder Theorie und eingängiger Darstellung. Ganz ohne PowerPoint und äußerst unterhaltsam! Mehr über Thomas Wuttke unter www.thomaswuttke.com.

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