… aus der wöchentlichen Business-Kolumne von Ulrich B Wagner “Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus”
Heute: Gott ist tot…! Wenn es das nur wäre…
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Gott bleibt tot: Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab?
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1882
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Was würde unser lieber Friedrich Nietzsche, einhundertdreißig Jahre nach seinem legendären Ausruf, wohl gerade sagen angesichts der Abermillionen, die sprichwörtlich „auf Teufel komm raus“ nicht den Tod, sondern die Geburt des Gottessohnes feiern und hierzu in den Innenstädten landauf und landab ohne Unterlass lichterfrohe, bunte und glühweinselige Geburtstagspartys veranstalten?
Totgesagte leben länger, gab meine Großmutter immer zum Besten. Sei’s drum.
Doch ich denke, auch der Naivste unter uns ist in der Lage, das eine von dem anderen zu unterscheiden. Spätestens dann, wenn ihm fast noch zur Sommerzeit der gute alte Santa Claus, fett, als wäre er Buddha im neunten Monat und von dickbrüstigen Blondinen umgeben, klebrige, braune Limonade in seinen Wanst schüttend, von allen möglichen Werbetafeln ins Gesicht springt.
Dass dieser ganze Marketinghokuspokus am Ende des Tages nichts und rein gar nichts mit unserem guten, alten Nikolaus, Gott hab ihn selig, naja, er ist ja schon heilig, zu tun hat, muss daher wohl auch an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.
Für den einen oder andren interessierten Laien sei hier nichtsdestotrotz angeführt, dass der echte Vorfahr des vermaledeiten Santa Claus, unser heiliger Nikolaus, am 6. Dezember 326 n.Chr. in Myra geboren wurde und sowohl in der West- als auch in der Ostkirche so populär ist, dass er mit Fug und Recht zu den Superstars unter den Heiligen gezählt werden kann, auch wenn er keine klebrige Brause trank und stattdessen eine Reihe wundersamer Taten vollbrachte, vom sogenannten Stratelatenwunder bis hin zur Mitgiftlegende, die ich ihnen hier kurz zum Besten geben möchte:
„Ein verarmter Mann beabsichtigt, seine drei Töchter zu Prostituierten zu machen, weil er sie mangels Mitgift nicht standesgemäß verheiraten kann. Nikolaus, noch nicht Bischof und gerade durch ein Erbe mit einem größeren Vermögen ausgestattet, erfährt von der Notlage und wirft in drei aufeinander folgenden Nächten je einen großen Goldklumpen durch das Fenster des Zimmers der drei jungen Mädchen. In der dritten Nacht gelingt es dem Vater, ihn zu entdecken, ihn nach seinem Namen zu fragen und ihm dafür zu danken, dass nun die Mitgift für jede der Töchter gesichert ist.“
Aus dieser Legende entspringt in der Folge die häufige ikonografische Darstellung mit den drei goldenen Kugeln oder Äpfeln und, im Zusammenhang mit der späteren Übertragung seines gesamten geerbten Vermögens an ein Waisenhaus, der bis heute lebendige Brauch des Nikolaus als Geschenkebringer und Wohltäter der Kinder.
Doch dies hier nur am Rande.
Unser guter alte Nietzsche rief nämlich nicht nur den Tod Gottes aus, sondern rüttelte mir nichts dir nichts auch noch an den Grundwerten Wahrheit, Moral und Religion und setzte an ihre Stelle den sogenannten Nihilismus – das Nichts. Seiner Auffassung nach war es nämlich nunmehr Aufgabe des Menschen selbst, angesichts dieser vermeintlichen Leere nicht zu resignieren, sondern alle Werte umzuwerten und „neue Werte auf neue Tafeln zu schreiben“.
Werkzeug dazu sollte ihm, nach Nietzsche, der „Wille zur Macht“ sein – das alles beherrschende Prinzip des Lebens. Dieser Weg führe schließlich den zukünftigen Menschen zu einer höheren Art des Menschenseins, der sich seine Werte selbst erschafft, nebenbei (mal eben so) das Elend der Gegenwart überwindet und in der atheistischen Zeit schließlich als Gottesersatz taugt.
Doch wie sagt es bereits der allseits bekannte platte Kinderreim: Ein Taucher, der nicht taucht, taucht nichts. Wobei wir auch schon (…) beim eigentlichen Thema der heutigen Kolumne wären.
In DER SPIEGEL der vergangenen Woche war ein sehr interessantes Interview mit dem amerikanischen Philosophen Michael J. Sandel, den sie auch gerne den Sokrates in Harvard nennen, dessen Lektionen über Gerechtigkeit, Moral und das richtige Leben mittlerweile bereits im „globalen Klassenzimmer“ stattfinden und der in seinem neuen Buch (Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Ullstein 2012) sehr eindrucksvoll die moralischen Grenzen des Marktes aufzeigt.
Kurzum, wir haben den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, als wir spätestens in den 1980er Jahren begannen, die soziale Marktwirtschaft für den Glauben an die sich selbst regulierenden Kräfte der freien Märkte zu opfern, und dabei so, ohne es zu merken, von einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft schlitterten. Michael J. Sandel definiert dies im Interview wie folgt: „Die Marktwirtschaft ist ein Instrument, das wir haben, vermutlich das beste und effizienteste, um die Produktion und den Austausch von Gütern zu organisieren. Die Marktgesellschaft ist eine Lebensweise, ein Zustand, in dem wir sind und dem die sozialen Beziehungen ein Spiegel der Märkte werden. Die Ökonomie ersetzt die Ethik menschlichen Verhaltens.“
Statt neuer Werte, einer neuen Moral und einer selbst gewählten Solidar-gemeinschaft haben wir ein Vakuum, eine unendliche Leere der Moral geschaffen, an deren Ränder sich nur noch religiöse Fanatiker oder extreme Linke in Ideologisierung und Moralisierung hervortun.
Auch wenn Berthold Brecht Recht hatte mit seinem Ausspruch: Erst kommt das Fressen, dann die Moral, bedeutet dies nicht die Überlegenheit der Ökonomie, sondern sollte dies als ein Affront gegen den Zynismus der herrschenden Klasse gelesen werden, die vom hohen Ross materieller Wohlsituiertheit den niederen Schichten eine Moral predigen will, die einzig den eigenen Marktinteressen Rechnung trägt.
Selbst wenn Gott wirklich tot sein sollte, wäre dies nicht der Untergang, wenn wir, wie oben bereits gezeigt, nicht doch das Kind mit dem Bad ausgeschüttet haben.
Ich bin an dieser Stelle am Ende meiner heutigen Kolumne ankommen, lösche die entflammten Adventskerzen, die ich zu Beginn meiner Kolumne aus Hoffnung auf ein paar besinnliche Gedanken etwas frühzeitig entzündet habe, und wünsche Ihnen heute schon einmal eine besinnliche Weihnachtszeit.
PS: Ob Christ, Atheist, sonst wie Gläubiger oder mehr oder weniger Nichtgläubiger, könnte die Weihnachtszeit bei allem Marktrummel vielleicht doch auch eine Zeit sein, in der wir uns einmal wieder darauf besinnen, wie wir leben und zusammenleben wollen, in welcher Gesellschaft und mit welchen Werten und Normen. Oder vielleicht auch darüber nachzudenken, was für uns echte Solidargemeinschaft bedeutet und wie wir einen neuen moralischen und staatsbürgerlichen Dialog entfachen können, „um sich gegen die Entleerung der öffentlichen Rede, des politischen Diskurses, von jeglichem moralischen und spirituellen Gehalts zu wehren.“ Ich denke, wir Alle haben uns dies verdient, nicht nur zur Weihnachtszeit.
Ihr Ulrich B Wagner
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Über den Autor:
Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie. Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare. Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).
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Weitere Beiträge aus der Kolumne von Ulrich B Wagner:
– Nostalgie: Früher war alles besser… über Vergangenheit 2.0 oder heute ist morgen schon gestern
– Fetisch Kommunikation – Über Sinn und Sinnlichkeit des Nichtverstehens
– SMS von Che Guevara: Hasta la victoria siempre. Movil o muerte
– Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Über Sokrates, Facebook und die Jugend
– Der Wasserspiegel der Seele – Über stille Orte und sonstige Verwandlungen
– “Morgen, übermorgen, nie. Über ein Leben mit der inneren Drecksau!”
– Mohammeds Bart und der alltägliche Wahnsinn! …Ein Plädoyer für ein verständnisvolleres Miteinander