Victorias decret – Skandal und Komik: Über Katalysatoren gesellschaftlichen Umbruchs

Seit Jahren ist ein Umbruch in der Welt zu beobachten. Wir haben es nicht wahrgenommen, weil es zu weit weg war und wir dachten, dass wir nie ein Teil davon werden würden. Nun steht der Umbruch auch bei uns vor der Tür und hat uns zu einem Teil des Ganzen gemacht. In seinem heutigen Beitrag zu seiner Kolumne QUERGEDACHT & QUERGEWORTET zeigt Ulrich B Wagner, wie ein Skandal als Katalysator wirkt und wie dieser auf die Gesellschaft hineinbricht.

Ein Skandal ist wie ein Ei – wenn es ausgebrütet ist, bekommt es Flügel. – Sprichwort aus Madagaskar

Wir alle sind Teil des fundamentalen Umbruchs

Dass wir uns als Gemeinschaft, als Deutsche, Europäer, Weltbürger, aber insbesondere auch jeder Einzelne sowohl als Zeuge, aber auch als Akteur in einer Zeit des fundamentalen Umbruchs befinden, mag mittlerweile wohl jedem, trotz aller Konfusion und Unübersichtlichkeit, deutlich vor Augen sein oder vielleicht doch auch nicht…

Es ist schwer in der letzten Zeit noch den Überblick zu behalten, alles scheint sich aufzulösen. Selbstverständliches löst sich nicht nur auf, sondern ehemals geglaubte Gemeinsamkeiten, der Konsens über das Wesentliche, über den Kern unserer Identität(en), unsere Herkunftsbindungen und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen von Recht und Moral werden nicht nur brüchig, sondern scheinen (nicht nur) ihre Tragfähigkeit und ihre Standfeste einzubüßen.

„Religion ist wie Beton“, hieß es in Frank Plasbergs Sendung HART ABER FAIR zum Thema Islamismus. Doch welches Bild verbinden wir mit Beton und was hat das Ganze eigentlich mit uns zu tun?

Die Dunkelheit bricht über die Welt

Gesellschaftlicher Wandel, gesellschaftlicher Umbruch ist in der Regel immer auch mit Rat- und Orientierungslosigkeit verbunden. Die Welt scheint sich zu verdunkeln. Das Licht der vermeintlichen Aufklärung, die Taschenlampen des Bisherigen scheinen keine Helligkeit mehr in das Durcheinander des Seins zu bringen. Kurz gesagt: Die alten Ordnungen verlieren nicht nur ihre Bindungskraft, sondern auch ihre Deutungshoheit über das, was wir in „Guten Zeiten“ als Wirklichkeit verstanden.

Alles wird dunkel um uns herum. Die Welt, das Wissen über sie, die hieraus entsprungenen Routinen, Gewohnheiten, ungeschriebenen Gesetze, Regeln des Miteinanders und des Umgangs innerhalb dessen was wir Gemeinschaft und darüberhinaus auch als Gesellschaft bezeichnen, verbirgt sich auf einen Schlag unter einem Tuch der Finsternis.

Dunkelheit, scheinbare oder unscheinbare Finsternis in hochkomplexen Umfeldern macht nicht nur Angst, sondern führt in der Regel auch zu phänomenalen Kurzschlüssen, die sich dann in einem Skandal entladen, die zu vermeintlichen Katalysatoren dieser Finsternis oder Unübersichtlichkeit sich auswachsen.

(Katalysator, abgeleitet vom lateinischen Wort katálysis „Auflösung“ bezeichnet in der Chemie einen Stoff, der die Reaktionsgeschwindigkeit durch die Senkung der Aktivierung einer chemischen Reaktion erhöht, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Er beschleunigt die Hin- und Rückreaktion gleichermaßen und ändert somit die Kinetik chemischer Reaktionen, nicht deren Thermodynamik.)

Zeitgenossenschaft als Grund für die Dunkelheit

Wodurch entsteht jedoch diese Finsternis? Wie entsteht Dunkelheit? Was sehen wir eigentlich, wenn es dunkel ist? Wie erklärt sich die Dunkelheit, die wir wahrnehmen?

Sie hat, und da schließe ich mich den Ausführungen, des von mir hoch geschätzten „zeitgenössischen“ Philosophen Sergio Agamben an, sehr viel mit Zeitgenossenschaft zu tun, wenn nicht sogar alles (vgl. Sergio Agamben Was ist Zeitgenossenschaft, in Nacktheiten, S. Fischer, 2010, S. 21 ff.). Zeitgenössisch ist demnach derjenige, der seinen Blick fest auf seine Zeit richtet, um nicht deren Glanz, sondern deren Finsternis wahrzunehmen… Zeitgenosse ist, wer diese Dunkelheit sehen kann. Was heißt es also die Dunkelheit wahrzunehmen, sie zu sehen, sie mit allen Sinnen spüren zu können? Folgt man der Neurophysiologie, enthemmt die Abwesenheit von Licht eine Reihe peripherer, off-cells genannter Zellen der Retina, die aktiv werden und jene besondere Sichtweise erzeugen, die wir dann „Dunkelheit“ nennen.

Was will ich Ihnen wohl hiermit sagen, werden sie sich jetzt fragen. Auf den Punkt gebracht 🙂 : Dunkelheit ist keine bloße Abwesenheit von Licht, sondern ein aktiver Prozess unseres Auges: WIR (unsere Retina) tun etwas dabei und zwar aktiv. Übersetzen wir dies nun in den Kontext, welcher von vielen von uns wahrgenommenen „Gesellschaftlichen Dunkelheit“, kann man von einer Neutralisierung des von der Epoche, in der wir uns gerade im Übergang (zu) befinden (scheinen), ausstrahlenden Lichts, das ihre Finsternis, ihre eigene Dunkelheit verbergen soll ausgehen.

„Das Zeitgenössische ist das Unzeitgemäße“ in Anlehnung an Nietzsche und wird in „Guten Zeiten“ nur von wenigen wahrgenommen. Doch in großen Umbruchzeiten wird sie mit Hilfe von den Katalysatoren, den Skandalen, auch für uns „Normale“ in einer extremen Bündelung ehemals partieller, aufgespaltener Komplexität hindurch wahrnehmbar. Sie kristallisiert sich heraus, wird zum Brennpunkt, zum Stachel, zur kollektiven Erregung und führt dazu, dass, wenn vielleicht auch nur für kurze Zeit, jeder Einzelne zum Zeitgenossen wird, da er auf einmal verspürt, dass das was er als Finsternis wahrnimmt, ihn persönlich mit Haut und Haar angeht, es nicht aufhört ihn anzuplärren, ihn anzusprechen und sich als das offenbart was es ist: Es richtet sich mehr als jedes sonstige Licht unmittelbar und ohne Ausnahme an ihn, an uns, die wir für diesen kurzen Moment in Zeitgenossenschaft vereint sind.

Es ist unsere Zeitgenossenschaft, denn die Strahlen der Finsternis unserer Zeit, einer Zeit, die sich als schicksalhafter Dreh- und Angelpunkt, als Kreuzungspunkt unseres Seins entpuppt, des Pendelns zwischen vor und zurück, zwischen einem noch nicht greifbaren Morgen und einem für immer vergangenen Gestern, knallen uns mit voller Breitseite in unsere vor Angst und Entsetzen entgeisterte Fratzen.

Es geht uns an! Es appelliert an uns, an unsere Bereitschaft, uns dessen gewahr zu werden, dass in dem, was nunmehr im Dunkeln fast ohne unsere bewusste Wahrnehmung vor sich geht, darüber entscheiden wird, wie wir in Zukunft leben werden.

Der Skandal lässt uns hinter die Fassade blicken

Der Böhmermann-Skandal legt nämlich nicht nur das frei, was im Hirnstüble von Erdogan passiert, sondern zeigt auch Tendenzen, die tief in unserer Gesellschaft als brodelnde Konflikte verwurzelt sind: Die fast selbstschädigende, gesellschaftlich akzeptierte, fast vollständige Liberalisierung der Finanzmärkte bei einer gleichzeitigen Reglementierung und staatlichen Einmischung in Fragen der Moral, der freien Meinungsäußerung und Vorzügen einer offenen, postmodernen, libertären und toleranten Gesellschaft (lesen Sie hierzu auch meine Kolumne „Drei Farben schwarz“; DIE WELT: Eine weitere Geste der kulturellen Unterwerfung)

Die Finsternis und deren Folgen wir nunmehr zu spüren bekommen, ist eine Folge des kollektiven Zynismus, des „aufgeklärten falschen Bewusstseins“ (vgl. Sloterdijk) und der mit ihr einhergehenden Doppelmoral und Homogenisierung der Märkte und nicht der Lebenswelten.

Wir haben es in der Hand. Tun wir etwas. Vielleicht können uns ja die NUIT DEBOUT, die seit kurzem in Frankreich stattfinden, Vorbild und Wegweiser sein.

 

Ihr Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?