Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet,
dann bedeutet sie das Recht darauf,
den Leuten das zu sagen,
was sie nicht hören wollen!
George Orwell
Verantwortlich
ist man nicht nur für das, was man tut,
sondern auch für das, was man nicht tut.
Laotse
Nach Paris: Was bleibt, ist Hilflosigkeit
Ich fühle mich verloren, hilflos, erschüttert und bis in die Haarwurzeln hinein aufgekocht. Es brodelt und dampft, kalt und heiß wechseln im Sekundentakt, das Herz rast, der Kopf schmerzt und die Wände kommen bedrohlich auf mich zu.
Ich brauche Platz.
Ich brauche Raum.
Ich brauche Luft zum Atmen, ein Ventil, dass das Unbeschreibliche, das Erschütternde und Unaussprechliche insoweit erträglich macht, dass ich mich nicht vergesse.
Vergessen?
Wen oder was vergessen?
Die Bilder des letzten Freitagabend vergessen?
Ich werde sie nicht vergessen!
Ich kann sie nicht vergessen!
Und es ist gut so….!!!
Paris lässt uns sprachlos zurück
Ich sitze vorm Schreibtisch. Worte wollen heraus. Ich will ihn formen meinen Schmerz, meine Wut, den Zorn, die Hilflosigkeit und diese unendliche Ratlosigkeit, doch alles was kommt ist ein Schrei.
Die Augen weit aufgerissen, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und nur dieser unendliche Schrei, der alles durchdringt, jede Pore meines Körpers.
Ein Schrei, der tief aus der Seele kommt und sie dabei zerreißt.
Ich stehe auf einem Steg. Vor mir das stürmische Meer und hinter mir nur das Dunkel der Nacht. Ich bin Teil eines Bildes und das Bild wird das erste mal zu einem Teil meiner selbst.
Ich bin der Schrei.
Ich erwache. Paris – alles nur ein Traum?
Der Schweiß läuft mir von der Stirn, mischt sich mit Tränen, Spucke und Erbrochenem. Ich will weg. Ich torkle, wanke und halte mich an den Wänden fest.
Die Bilder von Paris: Ein Gefängnis für die Gedanken
Mein Kopf lässt mich nicht raus. Ich bin ein Gefangener meiner eigenen Bilder. Sie stürmen, sie drängen, sind surreal, so fern und doch so ganz in mir gefangen. Wärter und Gefangene, zwei Seiten einer Medaille, auch sie verwischen zu einem einzigen Brei. Ich will raus. Schütte Wasser in das von Angst und Schrecken gezeichnete Gesicht.
Ich will brechen. Doch alles kotzt mich nur an.
Die Beine müde, sinke ich ermattet auf das Klo, zünde mir eine Zigarette an und schließe die Augen, sehe Bilder von Neuem. Es rast, es flirrt und verliert sich irgendwo dazwischen.
Der Traum!? Das Wissen dessen was doch so real ist und doch so weit weg.
Wir haben Bilder im Kopf von dem, was in Paris geschah, von dem Grauen, dem Schrecken, der Angst. Es war da. Es war die ganze Zeit schon da, doch wir konnten es noch vergessen. Vergessen von Zeit zu Zeit, denn es war soweit weg. Es war weg. Doch es war da und hatte doch nichts mit uns zu tun. Es war in einem fremden Land, es waren fremde Menschen und unsere vermeintliche Empathie und unsere hochgepriesene Dialektik schützte uns vor dem Gefühl der wahren Betroffenheit.
Wir waren immer betroffen, von ganzem Herzen betroffen und es fiel uns so leicht, diese Betroffenheit zu zeigen, sie zu äußern, sie zu teilen, sie zu verstehen.
Paris ist uns so nah
Doch jetzt, mit Paris, ist alles anders. Nichts ist mehr so, wie es einmal war.
Die Bilder springen aus dem Zelluloidstreifen, verselbständigen sich, setzen sich neu zusammen, spielen ihr Spiel mit mir, der ich Betrachter, Filmprojektor und Leinwand in einem bin. Es tut nur noch weh.
Während ich den Rauch der Zigarette ausblase,erscheinen Worte, sie klingen, entrutschen aus Gelesenem, verbinden sich mit den Bildern und entführen dabei zu einem neuen Tanz.
Ich bin nur noch müde. Ich will zurück ins Bett, doch die Gedanken, die Bilder, die Worte, sie haben mich längst schon wieder aufs Neue entführt in eine Welt, so voll von ihnen und doch so leer.
Banalität des Bösen
Es ist so banal; und doch…
Es ist das, was ich bei Peter Handke liebe, dieses auf den ersten Blick so Banale, das so leicht(fertig) in den Mittelpunkt, in das Zentrum des Denkens gehoben wird. In seiner Prosa entkleidet sich das Selbstverständliche, macht sich nackt, versucht es auf jeden Fall im Auge des Lesenden, des Betrachtenden, der durch die Worte hervorgerufenen Bilder und da… Das Selbstverständliche wird selbst mit einem mal so unselbstverständlich, reizt zu immer neuen Variationen, die sich zu Seitensträngen der Handlung verdichten und doch in der Umkreisung auf sie zurückweisen. Es hilft nichts.
Es ist still am stillen Ort. Nur der Mund der den Rauch herausbläst, macht ein schweres, tiefes Stöhnen erahnbar. Es reicht.
Der neue Film beginnt zu rasen und es ist wie konstruiert und doch nur überrannt. Auf einem Schlag sitze ich, die Augen verschlossen vor den eigenen Bildern, von neuem von ihnen eingefangen noch immer auf dem heimeligen Klo inmitten Luis Buñuels Abendgesellschaft, umgeben von Freunden, Bekannten, Menschen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe und wir verrichten gemeinsam unser Geschäft. Verzweifelt suchen wir Antworten auf das, was in Paris geschehen ist.
Wie können wir noch kommunizieren?
Bilder springen nicht einfach so in unser Bewusstsein. Sie sprechen mit uns. Sie versuchen es auf jeden Fall: Die Unmöglichkeit der Kommunikation.
Wer Luis Buñuels Meisterwek Das Gespenst der Freiheit von 1974 gesehen hat, wird mich vielleicht verstehen, denn noch nie wurde vorher und bis heute die Willkürlichkeit unserer bürgerlichen Normen so prägnant in Bilder übersetzt wie dort: Eine vornehme Abendgesellschaft setzt sich darin nicht zu Wein und Speisen an einen Tisch, sondern auf Kloschüsseln, um mit größter Lust das Geschäft zu verrichten. Und wen während der Konversation der Hunger packt, der entschuldigt sich kurz und findet in einer Kammer Essbares, das mit tierischer und verstohlener Eile verschlungen wird. Dem Essen wie der Verdauung haftet Animalisches an. Welche Handlung wir zivilisatorisch auf- oder abwerten, feiern oder verdammen, scheint pure Konvention.
Wir wissen nicht mehr was zu tun ist. Oben und unten verschwimmen. Richtig und falsch sind in einem nicht endenwollenden Strudel der Hilflosigkeit verlorengegangen. Wir beschwören Hintergründe, die das Grauen, die Barbarei, den Akt des Terrors verständlicher machen sollen. Doch es gelingt nicht, denn die Beschwörung komplexer Hintergründe hat, wie Slavoy Zizek so eindringlich in seinem Büchlein „Blasphemische Gedanken – Islam und Moderne“ gezeigt hat, „auch in Bezug auf Hitler sehr gut funktioniert. Dem gelang es schließlich die Ungerechtigkeit des Versailler Vertrags für seine Zwecke zu nutzen.Doch war es nichtsdestotrotz vollkommen gerechtfertigt, das Naziregime mit allen Mitteln zu bekämpfen?“
Ich schließe mich daher seiner Meinung an, dass es „eben nicht darum geht, ob die Missstände, die Terrorattentaten zugrunde liegen, real sind oder nicht, sondern um das politisch ideologische Projekt, das sich in Reaktion auf Ungerechtigkeiten herauskristallisiert.“
Ja, wir sollten lieber weiterdenken und dieses Weiterdenken hat nichts damit zu tun, wie es das bekannte Mantra will: Wir sind wir im Westen, die wir schreckliche Massaker in der Dritten Welt verübt haben, dass wir solche Taten verurteilen? Und es hat noch weniger zu tun mit der pathologischen Angst vieler westlicher Linksliberaler (und sonstiger Gutmenschen – mehr auch unter Der Gott des Gemetzels – Leben in Zeiten der Lenor-Gesellschaft) davor, sich der Islamophobie schuldig zu machen. Denn je mehr wir dies tun, unserer eigenen (Mit)Schuld nachspüren, desto massiver werden werden wir von den islamistischen Fundamentalisten und Terroristen als Heuchler beschimpft, die nur versuchen, ihren Hass auf den Islam zu kaschieren.
Ja, Zizek hat meines Erachtens Recht, wenn er wenige Absätze weiter schreibt, „dass diese Konstellation exakt das Paradox des Über-Ich reproduiziert: Je mehr man sich dem fügt, was der Andere von einem will, desto schuldiger wird man. Je mehr man den Islam toleriert, desto stärker scheint der Druck zu werden, den er auf einen ausübt.“
Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen
Alle Aufrufe, jetzt nicht überzureagieren, diese Gewaltexzesse – auch die in Paris – als etwas Vorübergehendes zu bezeichnen, sind verlogen und kontraproduktiv. Wir sollten wirklich lieber versuchen den dämonischen Mythos dahinter zu betrachten. Sind wir wirklich schon soweit, dass wir Nietzsches letzten Menschen zum Verwechseln ähnlich geworden sind, ein großes apathisches Geschöpf, ohne große Leidenschaften, ohne Träume, nein eher gelähmt durch die Unfähigkeit, noch träumen zu können. Des Lebens überdrüssig, gesättigt, versuchen wir die Risiken nicht nur zu vermeiden, sondern erst gar nicht als Teil unseres Handelns, unserer gerechtfertigeten Reaktion zu akzeptieren. Das was wir dabei als Toleranz bezeichnen, ist einzig einem feigen Reflex aus Bequemlichkeit und feigem Sicherheitsdenken geschuldet.
Ich bin es leid. Ich will das nicht. Ich will das Ganze nicht, das eine wie das andere. Doch auch ich weiß nicht wie. Vielleicht stellen wir die falschen Fragen? Haben die falschen Bilder im Kopf und die neuen stellen sich nicht ein, weil wir verzweifelt in unserem Versuch, das alte zu retten, bereits bis zum Hals in der Scheiße stecken!
Paris ist ein Symbol
Wir haben Bilder im Kopf! Bilder des Grauens! Bilder einer Stadt, die einmal mit etwas anderem verbunden war, mit Bildern die Teil unseres Selbst sind, Bildern die Teil unseres Selbstverständnisses, unserer Werte und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind:
Paris die Stadt der Liebe!
Paris die Stadt der Revolution!
Diese Bilder sind gerissen, wenn auch nicht mittendurch, doch spürbar. Sie sind blass geworden, angesichts der Bilder vom Paris des letzten Freitag.
Es liegt an uns, neue Bilder zu finden. Bilder, die über die alten hinausgehen. Bilder, die denen, die zu uns kommen, aus Angst, aus Todesangst vor dem Terror des Islamismus, Hoffnung und Mut geben für eine Zukunft, Zukunft für sie und ihre Familien. Wir werden erkennen müssen, nicht einfach nur intellektuell, sondern mit jeder Faser unseres Leibes, dass sie nicht Ursache des Terrors sind, sondern der Terror die Ursache dafür, dass sie hilfesuchend, verzweifelt und paralysiert vor unserer Haustür stehen.
Auch für sie müssen wir Bilder finden, gemeinsame Bilder, damit wir gemeinsam dem Terror ein Ende bereiten können.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein Meer von Bildern der Freiheit, der Demokratie und des Guten Lebens.
Ihr
Ulrich B Wagner