Arbeitskräftemangel: Demografische Herausforderungen treffen auf veränderte Arbeitswerte
Schönen guten Tag, Herr Moser. Sie haben eben ein aufrüttelndes White Paper zu einem der brisantesten aktuellen Themen veröffentlicht, dem eklatanten Arbeitskräftemangel, der weiterhin in aller Munde ist. Und das, obwohl in Deutschland und Österreich eine Rezession herrscht und die Zahl der Arbeitslosen wieder ansteigt. Wie passt das zusammen?
Das passt tatsächlich zusammen, wenn man die Dinge aus dem folgenden Blickwinkel betrachtet: Ja, es herrscht eine Rezession, laut den Wirtschaftsforschern jedoch eine Rezession der eher milden Art.
Die Zahl der Arbeitslosen ist tatsächlich wieder im Steigen begriffen, aber auch das nur leicht. Viele Branchen werden daher keine oder kaum Mitarbeiter abbauen, da sie davon ausgehen, dass die Wirtschaft in absehbarer Zeit wieder anziehen wird. Wie ich aus der Praxis weiß, nutzen manche Unternehmen diese etwas ruhigere Zeit auch, um ihr „Haus“ auf Vordermann zu bringen, bisherige Abläufe und Prozesse zu überprüfen, auszumisten und vor allem einmal etwas Luft zu holen.
Man könnte das auch als die Ruhe vor dem Sturm bezeichnen! Denn wir wissen ja, dass noch auf jede Rezession ein Wirtschaftsaufschwung gefolgt ist! Die allgemeine Vermutung ist also, dass diese Rezession nicht allzu lange dauern wird. Das bedeutet, dass die derzeitige wirtschaftliche Lage also eine vorübergehende ist und sich daher am grundlegenden Problem des Arbeitskräftemangels, nämlich der Demografie, nichts ändern wird.
Bereits jetzt und noch verstärkt werden auch in den kommenden Jahren einfach viel mehr Menschen in den Ruhestand treten, als in den Arbeitsmarkt nachrücken. Wir wissen auch, dass diese Entwicklung noch viel weiter reichen wird. Wenn man sich die Alterspyramide näher ansieht, wird klar, dass wir den Höhepunkt der zukünftigen Pensionierungen in fünf bis zehn Jahren erreichen werden.
Neue Arbeitskultur: Wie die junge Generation den Arbeitsmarkt beeinflusst
Man hört immer wieder, dass – speziell jüngere Menschen – weniger arbeiten wollen. Entspricht dies auch Ihren Beobachtungen und Erfahrungen?
Das beobachte ich ebenfalls, und es kommt als verstärkender Effekt zu der ohnehin angespannten Lage am Arbeitsmarkt noch hinzu! Meine Generation hat einfach mehr gearbeitet, wenn mehr zu tun war, ohne das groß zu hinterfragen, das war damals einfach so. Wobei ich jedoch feststellen kann, dass es sehr wohl auch heute junge Leute gibt, die so intensiv arbeiten, wie wir es damals gewohnt waren und auch heute noch sind.
Grundsätzlich ist es aber durchaus so, dass es viele sehr gut ausgebildete, leistungswillige und engagierte junge Menschen gibt, die gerne und gelegentlich auch viel arbeiten. Danach kommt jedoch ein bedeutsames „aber“. Denn die meisten jungen Leute sind nicht mehr bereit, alle anderen Lebensbereiche ihrem Beruf und ihrem zukünftigen Erfolg unterzuordnen! Ihnen ist eine sinnvolle berufliche Tätigkeit zwar auch wichtig, gleichzeitig legen sie jedoch großen Wert auf eine stimmige Balance aus Beruf und privaten Interessen. Dafür nehmen sie es auch in Kauf, weniger zu verdienen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es kommen durchaus ernsthafte, gut ausgebildete und leistungswillige junge Menschen nach. Es scheint jedoch, dass wir, die Babyboomer, kein überzeugendes Vorbild für sie sind. Unserem vorgelebten Drang nach einer Karriere und unserem hohen Leistungsanspruch wollen sie nicht mehr bedingungslos folgen. Zu hoch war der Preis, den wir aus der heutigen Sicht unserer Kinder dafür bezahlen mussten.
Natürlich gibt es jedoch auch jetzt immer noch die Fraktion der jungen Leute, denen ihre Karriere sehr wichtig ist und die weiterhin dazu bereit sind, alle anderen Lebensbereiche dem Beruf und ihren Karrierezielen unterzuordnen. Auch hier können wir also, wie in so vielen anderen Lebensbereichen, eine weiter fortschreitende Spaltung in der Gesellschaft beobachten.
Vom Bildungshunger zum Arbeitskräftemangel: Das Fachkraft-Dilemma
Gibt es auch Mängel bei der bedarfsgerechten Berufsausbildung, die den Arbeitskräftemangel weiter befeuert?
Ja, das ist definitiv eine weitere Ursache für das eklatante Ansteigen des Arbeitskräftemangels und lässt sich auch sehr eingängig durch Zahlen belegen.
In Österreich zum Beispiel hat sich der Anteil der Lehrlinge an den unselbständigen Beschäftigten im Zeitraum zwischen 1980 und 2022 halbiert! Der Lehrberuf scheint zunehmend unattraktiv zu werden, da immer mehr junge Menschen in höhere Ausbildungen drängen. Dadurch steigt der Anteil der Menschen mit akademischen Abschlüssen, was exzellent ist für die Statistik und die Bildungsindikatoren, mit denen wir in Europa verglichen werden.
Gleichzeitig fehlt uns dadurch aber der „Mittelbau“, nämlich die gut ausgebildeten Fachkräfte, und das ist fatal. Versuchen Sie einmal, einen guten Handwerker zu bekommen, der in Ihrer Wohnung rasch und professionell eine Reparatur vornimmt.
Ich denke, damit haben wir alle unsere liebe Not! Nicht zu sprechen von den Industriebetrieben, die händeringend nach qualifiziertem Personal suchen. Diese Entwicklung ist sicher auch dadurch entstanden, dass die meisten Eltern über die Jahre – aus ihrer Sicht auch verständlicherweise – ihren Kindern zu höheren Ausbildungen geraten haben.
Arbeitskräftemangel intensiviert: Pandemie-Folgen für den Arbeitsmarkt
Viele Arbeitskräfte sind ja nach der Pandemie nicht mehr in ihre angestammten Branchen zurückgekehrt. Wie prekär wirkt sich diese Tatsache auf den aktuellen Arbeitsmarkt aus?
Auch das ist ein wichtiger Faktor. Speziell jene Branchen, die bekanntermaßen schwierige Arbeitsbedingungen bieten und in denen die Bezahlung überschaubar ist, haben besonders gelitten.
Ich erinnere mich zum Beispiel noch daran, als sich nach den Lockdowns die Rückstände der Lieferketten auflösten und die Unternehmen wieder lieferfähig waren. Aber leider gab es auf einmal viel zu wenig LKW-Fahrer, die die Waren zu den Händlern transportieren konnten.
Auch die Gastronomie leidet nach wie vor sehr, gar nicht zu sprechen vom gesamten Bereich der Pflege. Aber selbst die Industrie, die ein zum Teil deutlich höheres Lohnniveau bietet, als zum Beispiel das Gewerbe oder der Pflegebereich, hat große Probleme.
Wenn ich mit Unternehmern und Unternehmerinnen spreche, habe ich zunehmend den Eindruck, dass es jenen Unternehmen leichter fällt, qualifizierte Leute zu finden, die ein gutes Arbeitsumfeld in Kombination mit einer sinnvollen Tätigkeit bieten können.
Dieser Eindruck bestätigt sich auch, wenn ich mich mit arbeitswilligen und arbeitssuchenden Menschen unterhalte. Da vernehme ich sehr oft diese oder ähnliche Aussagen: „Wenn ich schon wenig verdiene und zu Unzeiten arbeiten muss, dann möchte ich wenigstens etwas Sinnvolles tun!“
Arbeitskräftemangel im Fokus: Warum es keine einfachen Lösungen gibt
Rund um den Arbeitskräftemangel scheinen sich also mehrere Problemfelder zu überlagern. Ist es deshalb so schwierig, eine Lösung zu finden?
Das sehen Sie ganz richtig. Wir haben es hier mit einer äußerst komplexen Situation zu tun.
Da ist auf der einen Seite die aktuelle Demographie, in die wir nicht mehr eingreifen können. Auf der anderen Seite gibt es viel zu viele in falschen Bereichen und Bildungsebenen ausgebildete Menschen am Arbeitsmarkt, und außerdem hinkt der Bildungssektor insgesamt massiv hinter den heutigen Anforderungen her.
Dann sind da die jungen Menschen, die einen völlig anderen Zugang zu den Themen Arbeit und Karriere haben als die früheren Generationen. Abgesehen von der löblichen Tatsache, dass viele von ihnen etwas Sinnvolles machen wollen, lassen sie sich schlechte, in manchen Branchen auch unzumutbare Arbeitsbedingungen verständlicherweise einfach nicht mehr gefallen.
Sie sehen, diese Gemengelage ist weit davon entfernt, einfach zu sein. Deswegen kann es dafür auch keine einfache Lösung geben. Komplexe Probleme lassen sich nun einmal nicht mit einfachen Maßnahmen bereinigen.
Laut und aufgebracht Lösungen einzufordern, ist natürlich leicht. Es werden diesbezüglich von Wirtschaftsseite ja bereits ausreichend Forderungen an die Politik gerichtet. Ob das Sinn macht und warum Unternehmen auch selbst dringend agieren müssen, darauf gehe ich im zweiten Teil dieser Interviewreihe näher ein.
Herr Moser, Vielen Dank für Ihre Ausführungen.
Das Interview mit Herrn Gerald Moser führte die AGITANO Redaktion.
Lesen Sie gerne auch noch …
- das zweite Interview zu „Arbeitskräftemangel: Politiker und Unternehmer müssen handeln“ (09. November 2023).
- das dritte Interview zu „Arbeitskräftemangel: Unternehmen haben zahlreiche Möglichkeiten, die sie ergreifen können“ (16. November 2023).
Whitepaper „Arbeitskräftemangel“
Wenn Sie am Thema interessiert sind, holen Sie sich das Whitepaper „Eklatanter Arbeitskräftemangel in aller Munde! Und was kleine und mittlere Unternehmen dagegen tun sollten.“ Es lohnt sich auf jeden Fall, es zu lesen!
Über Gerald Moser
Gerald Moser ist Unternehmensberater und Experte für robuste Unternehmensführung. Er studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Innsbruck und erlangte einen MBA-Abschluss an der Universität Toronto. Zudem absolvierte er zahlreiche berufsbegleitende Aus- und Weiterbildungen, unter anderem jene zum neurosystemischen Coach.
Seine Karriere startete in verschiedenen Führungspositionen von Großunternehmen und setzte sich als Geschäftsführer des Tochterunternehmens eines Konzerns fort. Dieses Unternehmen kaufte er und war 12 Jahre lang erfolgreich als Unternehmer tätig.
Als Unternehmer machte er alle Höhen und Tiefen eines unternehmerischen Lebens mit. Heute unterstützt er die Eigentümer kleinerer und mittlerer Unternehmen dabei, ihre Unternehmen robuster und krisensicherer aufzustellen.
Gerald Mosers fundierte Ausbildungen, seine persönliche Erfahrung als Unternehmer und seine Expertise und Freude an der Integration ALLER Aspekte des unternehmerischen Lebens zeichnen ihn und seine Arbeit aus.
Mehr erfahren Sie über Gerald Moser auf seiner Website.