Was Unfallchirurgie und Orthopädie verbindet – Interview mit Dr. Irene Kammerer

Nebel, nasse Fahrbahnen, Wild Überquerungen – im Herbst begegnen uns wieder viele Faktoren, die das Risiko für Unfälle erhöhen können. Solche Unglücke können Menschen völlig aus der Bahn werfen. Vor allem, wenn sie schwerwiegende Verletzungen erleiden. Dann ist schnelle und fachkundige medizinische Behandlung gefragt. Dafür steht seit 2013 Frau Dr. med. Irene Kammerer mit zwei Kollegen in der Gemeinschaftspraxis Die Orthopäden am Stadtgarten in Ettlingen. Als Fachärztin für allgemeine Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie hat sie sich auf Hand- und Fußchirurgie spezialisiert. Im Interview gibt sie Einblicke in die Komplexität der Unfallchirurgie, in ihr breites Therapiespektrum und die Kooperation in einer Gemeinschaftspraxis.

Was die Unfallchirurgie komplex und facettenreich macht – Dr. Irene Kammerer im Interview

Guten Tag Frau Dr. Kammerer, Sie sind darauf spezialisiert zu retten, zu behandeln und beizustehen. Dafür absolvierten Sie nach Ihrem sechsjährigen Medizinstudium eine langjährige Facharztausbildung zur allgemeinen Chirurgin sowie eine dreijährige Spezialisierung zu Ihrem Schwerpunktbereich Unfallchirurgie. Das macht insgesamt 15 Jahre Ausbildung plus weitere Fortbildungen – aber was macht die Unfallchirurgie so anspruchsvoll?

Die Ausbildung ist so kompliziert und umfangreich, weil Sie als Unfallchirurg die medizinische Erstversorgung eines Patienten übernehmen. Ob beim Unfall auf der Autobahn oder in der Unfallambulanz einer Klinik – Sie müssen Generalist für alle Fachgebiete sein. Das heißt, dass Sie einen Herzinfarkt genauso erkennen müssen, wie eine Augenverletzung. Sie sind ebenso Urologe wie Neurochirurg. Was den Unfallchirurg hervorhebt ist, dass er einen Bodycheck macht, die Diagnose stellt sowie die Behandlung und das Notfallmanagement übernimmt. Ob noch weitere Fachärzte hinzugezogen werden, entscheidet der Unfallchirurg von Fall zu Fall individuell. Zunächst hängt jedoch die Erstversorgung des Patienten allein von dessen Fähigkeiten und Wissen ab. Entscheidend ist dazu neben einem breiten medizinischen Wissensspektrum, eine langjährige Erfahrung und ein kühler Kopf.

Kliniken vs. Gemeinschaftspraxen – was macht den Unterschied?

 Orte der Krankenversorgung sowie der medizinischen Forschung und -Lehre: Universitätskliniken haben zweifellos eine besondere Funktion im Gesundheitswesen. Als Unfallchirurgin kennen Sie das Arbeiten in großen Unikliniken. Warum haben Sie sich für eine chirurgisch-orthopädische Gemeinschaftspraxis entschieden? Was sind die Vorteile gegenüber einer Praxis in Alleinregie?

Große Kliniken arbeiten arbeitsteilig. Ein Arzt stellt die Indikation, andere operieren, um die Nachbehandlung des Patienten kümmern sich wieder andere. Das mag effizient sein, für Patienten und Mediziner ist es aber vor allem anonym. Ich kenne im Krankenhaus meinen Patienten nicht persönlich, weiß nicht, wie er mit meiner Behandlung zufrieden ist und sehe ihn nach der Operation meist nicht wieder. Die menschliche Komponente, die für eine Genesung sehr wichtig ist, fehlt nicht nur den Patienten im Krankenhaus. Auch für mich als Ärztin ist sie eine wichtige Motivation.

In unserer Gemeinschaftspraxis begleite ich meine Patienten oft über viele Jahre, ich behandle, motiviere und freue mich mit Ihnen über Erfolge. Dieses Vertrauensverhältnis ist sehr wichtig für eine gelungene Therapie. Als Chirurgin bin ich nicht nur eine Feinmechanikerin, die repariert. Ich möchte den Menschen ganzheitlich behandeln. Denn eine Verletzung oder Erkrankung bringt oft viele Beeinträchtigungen mit sich. Als Chirurgin in einer Gemeinschaftspraxis ist eine umfassende Behandlung auf dem Gebiet der Unfallchirurgie und Orthopädie erreichbar.

Geht es in Ihrer Gemeinschaftspraxis in erster Linie um fachliche Zusammenarbeit und therapeutische Ergänzung? Oder geht es auch um ökonomische Synergien in Verwaltung und Ausstattung? 

Natürlich sind Synergien in der Verwaltung, bei der Personalplanung oder bei der Anschaffung teurer Geräte ein Vorteil. Ein einzelner Arzt kann sich kaum einen eigenen Operationssaal leisten. Aber auch die fachliche Zusammenarbeit ist eine Erleichterung. Beispielsweise kann ich mich mit meinen Kollegen in schwierigen Fällen beraten. Dazu vermitteln wir Patienten fachübergreifend und auf möglichst kurzen Wegen, wenn wir wissen, dass ein anderer Kollege der Experte im jeweiligen Gebiet ist. Diese hochqualifizierte und zugleich entspannte Atmosphäre in unserer Gemeinschaftspraxis spüren und schätzen wiederum unsere Patienten.

Sie behandeln ambulant, einschließlich chirurgischer Eingriffe in den eigenen Operationsräumen. Was zählt zu Ihren häufigsten Behandlungen in der Unfallchirurgie? Kommen sie dabei stets ohne Betten aus?

Knochenbrüche, Verletzungen und Fehlbildungen zählen zu den häufigsten Krankheiten in meinem Behandlungszimmer. Ob ein Patient mit Hallux valgus oder ein traumatisiertes Kind – der Vorteil unserer Praxis ist, dass die gesamte chirurgische und orthopädische Behandlung aus einer Hand erfolgt. Für den Patienten bedeutet das weniger Stress. Gleichzeitig gewinnt er mehr Transparenz und Vertrauen. Die Operationstechniken sind mittlerweile so verfeinert, dass sehr viele Eingriffe sehr gut ambulant durchgeführt werden können. Das ist eine enorme Erleichterung für den Patienten. Denn dieser kommt postoperativ in der vertrauten häuslichen Atmosphäre schneller wieder zu Kräften, als in einer sterilen Klinik.

Wie ergänzen sich Orthopäden mit Chirurgen und wie wichtig ist Ihr qualifiziertes Team für die Therapien?

Als Orthopädin behandle ich Erkrankungen meist konservativ, als Chirurgin sind viele Patienten zu operieren. So kann das gesamte Behandlungsspektrum der Chirurgie und der Orthopädie von mir angeboten werden. Unser hoch qualifiziertes Team aus Arzthelferinnen, OP Schwestern, Verwaltungsangestellten, Telefonistinnen und Reinigungskräften ist eine wichtige Stütze, Entlastung bei der Behandlung und ermöglicht einen reibungslosen Ablauf.

Großkliniken sind bei vielen Patienten unbeliebt. In wieviel Prozent der Fälle sind sie dennoch erforderlich? Oder sind Gemeinschaftspraxen ein Zukunftsmodell, bei dem sich Ökonomie mit professioneller Behandlung und Patientennähe verbindet?

Eine konkrete Prozentzahl kann ich Ihnen hierzu nicht nennen. Doch sicher ist: viele stationäre Behandlungen können auch ambulant erfolgen. Damit stelle ich die Qualität der Krankenhäuser nicht pauschal in Frage, schließlich habe ich selbst an der Uniklinik gelernt und lange gearbeitet. Oft führen Ängste oder Unwissenheit nach einem Unfall ins Krankenhaus. Viele dieser Erkrankungen können in einer fachübergreifenden Großpraxis, wie unserer, ebenfalls behandelt werden.

Allesentscheidend für eine korrekte Therapie ist die richtige Diagnose. Da kommt es auf die fachliche Kompetenz und die Erfahrung des jeweiligen Arztes an, nicht auf die Struktur Klinik oder Gemeinschaftspraxis. Ich halte Gemeinschaftspraxen für zukunftsfähig, weil sie oft die günstigere Therapie bei äquivalenter Leistung bieten. Zudem sind sie häufig näher an den Bedürfnissen der Patienten orientiert.

Einer Ihrer Behandlungsschwerpunkte ist die Hand- und Fußchirurgie. Was fasziniert Sie gerade an unseren Extremitäten?

Für mich gibt es nichts Schöneres als die menschliche Hand. Das riesige Funktionsspektrum, von greifen, fühlen, ziehen, halten bis zu tasten, macht sie besonders. Das lässt sich auch mit sehr vielen Maschinen nicht nachbauen. Auch evolutionär gesehen, spielt die Hand eine wichtige Rolle: Denn der Daumen machte den Menschen zum intelligenten Wesen. Die Opposition des Daumens erlaubte die Herstellung von Werkzeugen. Heutzutage umfassen wir wie selbstverständlich Dinge oder bedienen Werkzeuge. Ohne die Mechanik der Hand wären viele Abstraktionen nutzlos. Das Wechselspiel der darin befindlichen feinen Knochen, Sehnen, Muskeln und Nerven zu verstehen ist eine Kunst. Der Fuß folgt hier ähnlichen Funktionsprinzipien, auch wenn er als Bewegungsinstrument und Lastenträger andere Aufgaben wahrnimmt.

Sie behandeln konservativ und operativ. Außerdem bieten Sie alternative Therapien wie Akupunktur an. Wie verträgt sich die Schulmedizin mit alternativen Methoden und was ist nach Ihrer Erfahrung bei gleicher Ausgangsdiagnose wirksamer?

Ich betrachte alternative Methoden als sehr hilfreiches Additiv zur Schulmedizin, wenn es sich wie bei der Akupunktur um wissenschaftlich bewiesene Methoden handelt. Bei Arthrose oder chronischem Schmerz hat sich die Akupunktur als sehr verträglichere und erfolgreiche Therapie erwiesen. Sie war sogar oftmals hilfreicher, als manches Medikament. Mir geht es bei jeder Behandlung um die Verhältnismäßigkeit – da ist die Akupunktur oft im Vorteil. Aber letztlich entscheidet der Patient zusammen mit mir, welche Therapie angewendet wird.

Unfälle und Unglücke passieren Erwachsenen wie Kindern. Zu einem Ihrer Arbeitsschwerpunkte zählt dabei Kindertraumatologie. Wie unterscheidet sich dieses Spezialgebiet von chirurgischen Therapien für Erwachsene?

Der medizinische Umgang mit kindlichen Erkrankungen erfordert viel Wissen über die Wachstumsprozesse, um eine altersgemäße Therapie einzuleiten. Der ärztliche Umgang mit Kindern ist manchmal einfacher als der mit Erwachsenen. Natürlich schreien Kinder, wenn etwas weh tut. Sie haben Ängste und müssen feinfühlend angesprochen werden. Aber Kinder sind auch impulsiv, neugierig und nicht unnötig „verkopft“. So müssen Kinder nicht zu Bewegung anhalten werden. Sie reagieren meist intuitiv richtig und wenn etwas nicht mehr weh tut, ist es oft auch kein Problem mehr.

Abgesehen von diesen Spezialisierungen haben Sie eine Zusatzausbildung für Tropenmedizin, die Flugmedizin und waren bereits in Somalia im humanitären Einsatz. Welche Rolle spielt soziales Engagement für Ihre Arbeit?

Soziales Engagement spielt eine große Rolle. Ich kann nicht vorbeigehen, wenn ein Mensch Hilfe benötigt. In Somalia habe ich die Kriegschirurgie kennengelernt. Ich sah abgetrennte Gliedmaßen, Minenopfer oder Menschen mit schweren Schussverletzungen. Das waren keine Unfälle, sondern die Schrecken des Krieges. Auch das erfordert die gesamte Konzentration des Chirurgen, gute Nerven und reichlich Organisationstalent. So lebenswichtig viele meiner Operationen waren – die Behandlungserfolge hatten einen bitteren Beigeschmack. Denn der Krieg geht weiter und ich geriet selbst in Lebensgefahr. Ein humanitäres Engagement fordert viel Kraft und Zeit, die ich im Augenblick meinen Patienten in Karlsruhe und Ettlingen widme.

Gibt es etwas, was Sie in Ihrer Praxis in den nächsten Jahren noch verändern oder erweitern möchten?

Momentan bin ich am Höhepunkt meiner fachlichen Kompetenz, aber es gibt natürlich ständig Weiterbildungen und neue Entwicklungen im therapeutischen Bereich. Diese verfolge ich intensiv. Gleichzeitig genieße ich es, mit meinem jetzigen Wissen und Erfahrungsschatz so zu praktizieren, wie ich es für richtig halte. Unsere Gemeinschaftspraxis bietet dafür den passenden Rahmen und es erfordert einige Jahre Arbeit, dieses Investment zu refinanzieren. Irgendwann sollte die Work-Life-Balance meinen 12-Stunden-Arbeitstag, Wochenend- und Feiertagsdienste ein wenig reduzieren.

Dr. Irene Kammerer, Unfallchirurgin, Orthopädin, Ärztin, Frau
Dr. Irene Kammerer: eine Unfallchirurgin, auf Hand und Fuß spezialisiert. (Bild: © Dr. Irene Kammerer)

Vielen Dank, Frau Dr. Kammerer, für die interessanten Ausführungen zu der Verbindung von Orthopädie und Unfallchirurgie sowie den Chancen, die eine gemeinschaftlich geführte Praxis bereithält.

Das Interview mit Dr. Irene Kammerer führte Karin Kreuzer, Redakteurin AGITANO.

Über Dr. Irene Kammerer

Dr. Irene Kammerer absolvierte zunächst Ausbildungen als Chemielaborantin und Rettungsassistentin, bevor sie in Heidelberg und Mannheim studierte sowie die Facharztausbildung am Universitätsklinikum Homburg/Saar absolvierte. Verschiedene Weiterbildungen und Spezialisierungen vor allem in der Unfall-Hand und Fußchirurgie folgten. Seit 2013 arbeitet Dr. med. Irene Kammerer mit Herrn Dr. Andreas Sütterle und Herrn Dr. Stefan Paganini in einer Gemeinschaftspraxis in Ettlingen.

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