Social Freezing… Über den Verlust des Augenblicks

Die Initiative der IT- und Internetgiganten Apple und Facebook, ihren Mitarbeiterinnen das „Social Freezing“, also das Einfrieren von Eizellen zu ermöglichen, ist Anlass für Ulrich B Wagner den Verlust des Augenblicks zu beklagen. In der heutigen Folge seiner Kolumne “QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag” bedauert er, dass ein gelungener, zufälliger Augenblick in der heute oft der vermeintlich perfekten Planung zum Opfer fällt.

Nur wer für den Augenblick lebt, lebt für die Zukunft.

Heinrich von Kleist

Drei Dinge kann man nicht zurückholen: den Pfeil, der vom Bogen schnellte, das in Hast und Eile gesprochene Wort, die verpasste Gelegenheit.

Hadrat Ali

 „Social Freezing“ im Silicon Valley

Dass das Silicon Valley wohl weltweit die höchste Arschlochdichte hat, ist uns nicht erst seit Apples und Facebooks Vorstoß zur Bezahlung des Einfrierens der Eizellen („Social Freezing“) ihrer willigen Mitarbeiterinnen bekannt. Die mächtigsten Internetfirmen werden von testerongesteuerten, egozentrischen, rücksichtslosen oder anderweitig, psychisch gesehen, äußerst problematischen Menschen geführt, die denken sie könnten durch Social Freezing über die Familienplanung ihrer Mitarbeiterinnen bestimmen.

Ich meine, jeder darf ein Arschloch sein, wenn er es will. Der Gründer und Firmenchef des Beförderungs-Startups Uber, Travis Kalanick, sieht dies sogar als Kompliment für seine Person, das er auch gerne und ungeniert bei jeder Gelegenheit zurückgibt. Rücksichtsvolles Verhalten und Menschlichkeit sind von diesem Schlag Mensch nicht zu erwarten. Von Nächstenliebe mal ganz zu schweigen. Wie bereits gesagt, ein jeder von uns kann nach seiner Façon glücklich werden. Wenn… Ja wenn er nicht, wie es viele der Unternehmen, die mittels des Internets innerhalb kürzester Zeit aus einer winzigen Idee Milliardenprojekte machten, das Leben von Millionen Menschen weltweit nicht nur durch ihre Dienste und die dadurch initiierten marktstrukturellen Veränderungen beeinflussen würden. Sie schaffen Arbeitsplätze und zerstören sie gleichzeitig. Von den Menschen, die hinter diesen Arbeitsplätzen stehen, erst einmal ganz zu schweigen. Viel schlimmer ist es, dass sie nicht nur versuchen, ihre firmeninternen Werte und Philosophien in unsere Köpfe zu exportieren, sondern es in Form von Richtlinien und Geschäftsbedingungen auch in der Realität tun. Sie sind es nicht nur scheinbar, nein, sie agieren in Wirklichkeit wie globale Staaten. Wie Staaten mit totalitären, faschistoiden Herrschern.

Diese Aggro-Entrepreneure versuchen, uns, ohne einen Hauch von Menschlichkeit und ohne ein schlechtes Gewissen für die weitreichenden Folgen ihres Tuns und Lassens, ihr Verständnis des zügellosen, menschenleeren Turbokapitalismus aufzuzwingen.

Optimierung von Zeit und Nachwuchs

Einverstanden: In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Frauen, die sich für Social Freezing entschieden haben, um das Vierfache angestiegen. Man könnte den Vorstoß von Apple und Facebook wieder einmal der ihnen innewohnenden Genialität zuschreiben, immer im richtigen Moment auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Doch der Vorstoß zum Social Freezing ist weitaus mehr, als es auf den ersten Blick vermuten mag. Es geht nämlich, genau betrachtet, gar nicht um Social Freezing, denn in den Internetfirmen sind nicht einmal 25 Prozent der Beschäftigten weiblich. Die Mehrzahl der Beschäftigten ist weiß und männlich, und die paar Frauen, die sich eine Arbeit in diesen testosterongesteuerten Arbeitslagern zumuten, wollen in der Regel sowieso keine Kinder – und wenn doch, können sie den Zeitpunkt dank Social Freezing jetzt nach hinten verschieben. Es geht einzig darum, Menschen zu Arbeitsdrohnen zu verwandeln, die nichts anderes mehr im Kopf haben, als das Wohlergehen der Firma.

Social Freezing passt in unseren Zeitgeist, der von der Optimierung geprägt ist: Wir opfern den Augenblick, den geglückten Moment, dem manchmal rückblickend gesehenen glücklichen Zufall der Planung und der künstlichen Konstruktion. In einer Welt, die nur von Algorithmen geprägt ist, darf nichts dem Zufall überlassen werden, auch nicht das Kinderkriegen. Weder zeitlich, noch produkttechnisch. Durch Social Freezing kann der Zeitpunkt nun selbst bestimmt werden. Die fortgeschrittene Reproduktionstechnik verleiht aber nicht nur die Macht über das Wann, sondern auch über das Wie des Endprodukts. Denn das Diktat des Machens folgt immer auch dem Gesetz der Steigerung und der Verbesserung. Anders ausgedrückt: Wer Menschen züchtet, oder etwas weniger zynisch ausgedrückt: macht, will sie auch optimal machen. Den „Geburtenfatalismus“, von dem Peter Sloterdijk einmal gesprochen hat, wird in absehbarer Zeit eine Zuchtwahl auf wissenschaftlicher Basis ersetzen und die Selektion, die bei der Züchtung von Rennpferden oder Milchkühen schöne Erfolge zeitigt, wird auch beim Menschen gelingen, wie DIE ZEIT schrieb.

Züchtung von Arbeitsbienen durch Reproduktionsmedizin

Ziel ist es, willige, alles dem Firmenwohl unterordnende Arbeitsdrohnen heranzuziehen, die die besten Jahre ihres Lebens diesen herzlosen Molochen opfern, und dann, wenn sie älter und unflexibler werden, sich auch noch leicht entsorgen lassen. So wird in der kreativen Sturm- und Drang-Phase die Arbeitskraft optimal ausgebeutet, die Durchsetzungskraft und der maßlose Wille nicht durch Elternschaft unterbrochen. Klopft dann bereits die nächste Generation ‘Sturm und Drang’ an die Türen der Personalbüros, können die Alten, die über 40-Jährigen, ja bedenkenlos in die Elternschaft abgeschoben werden. Richtig betrachtet hat das schon Klasse.

Doch wer fragt nach den Kindern, die dann mit alten, desillusionierten und frustrierten Menschen aufwachsen? Keiner!

Die Kinder derer, die solchen Scheiß entwickeln, haben eh ein anderes Leben und über den Auswurf des Prekariats kräht am Ende des Tages sowieso kein Hahn.

Ich für meinen Teil habe mal wieder die Klassiker 1984 von George Orwell und Brave New World von Aldous Huxlex aus dem Regal gezogen, die heute schön und angenehm anmuten, und so gesehen hätte ich mir gewünscht, dass ihre Prophezeiungen eingetroffen wären, statt in diesem wahr gewordenen Albtraum mein Dasein fristen zu müssen.

Verweigern wir uns. Genießen wir den Augenblick. Vielleicht schalten wir auch einfach Facebook aus und genießen im Gegenzug mit „echten“ Freunden die gewonnenen Augenblicke des Lebens.

Ihr

Ulrich B Wagner

Ulrich Wagner
QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Über Ulrich B Wagner

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Lesen Sie auch die vorherigen Beiträge zur Kolumne “QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag” von Ulrich B Wagner:

Lauernde Dichtung: Über die zeitlose Magie des Buches

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