Digital Insights (1): Digitalisierung fängt da an, wo die Schmerzpunkte im Unternehmen am größten sind – Interview mit Bettina Vier

Die Interviewreihe „Digital Insights“ fängt sieben unterschiedliche Perspektiven derzeitiger Interim Manager auf aktuelle Themen wie technologische Innovationen und den Prozess der Digitalisierung ein. Als erste gibt Diplom-Volkswirtin Bettina Vier Antworten auf Fragen rund um betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit und strategische Herangehensweisen der globalen Digitalisierung. Sie spricht über das Verhältnis von Menschen und technologischen Neuerungen – sowie die hieraus resultierenden Herausforderungen – im Kontext einer immer stärker digitalisierten Welt.

Bettina Vier im Interview: Die digitale Welt wird sich noch mehr in die persönlichen und unternehmerischen Abläufe integrieren.

Was bedeutet für Sie der Begriff Digitalisierung?

Digitalisierung bedeutet im engen Sinne die Umwandlung analoger Informationen in digitale Werte. Aktuelle Diskussionen beziehen sich jedoch mehr auf die Anwendung: Wie können digitale Informationen genutzt werden, um Prozesse, Forschung und Kommunikation zu optimieren?

Wer (Unternehmen oder Person) ist für Sie in Sachen Digitalisierung ein Vorbild und warum?

Große Vorbilder werden schnell idealisiert. Dabei verdient jeder, der Technologisierung in seinem Unternehmen vorantreibt oder den Mut hat, eine eigene Firma zu gründen, Respekt. Was sind seine Erfolgsfaktoren und funktionieren diese in allen Bereichen oder Branchen? Welche Visionen treiben ihn an und gelingt es ihm, diese auf sein Umfeld zu übertragen?

Wie können auch kleine und mittlere Unternehmen von der Digitalisierung profitieren?

Die Digitalisierung bietet gerade kleinen und mittleren Unternehmen die Möglichkeit, sich flexibel aufzustellen. Jeder weiß, wie schwierig es ist, Mitarbeiter zu finden und die Produktion der Wirtschaftslage anzupassen oder Forschung und Marketing voranzutreiben. Eine automatisierte Produktion oder die digitale Zusammenarbeit mit Experten weltweit reduziert den lokalen Personalbedarf.

Noch ein Vorteil von KMUs: Mitarbeiter haben größere Verantwortungsbereiche und arbeiten enger zusammen. Es ist daher leichter, Ideen für die digitale Transformation zu entwickeln und zu implementieren beziehungsweise Visionen wirklich zu leben.

Wenn ein Unternehmen digitalisieren möchte, wo sollte es anfangen?

Digitalisierung fängt da an, wo die Schmerzpunkte im Unternehmen am größten sind. Sind diese bekannt, sollte eine Digitalstrategie erstellt werden, die Zielsetzung und Vorgehen beschreibt, denn nicht immer lassen sich Probleme sofort da beheben, wo sie spürbar sind. Meistens müssen die Prozesse davor verändert beziehungsweise eine technische Basis gelegt werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Mitarbeiter: Haben sie das Wissen, die vorhandenen Systeme optimal für ihre Arbeit zu nutzen, und sind sie in der Lage, sich neues Wissen selbst anzueignen? Lernen die Mitarbeiter, die Möglichkeiten der vorhandenen Technik voll auszuschöpfen, werden sie auch neue Ideen für digitale Lösungen entwickeln. Und sie werden die Angst vor Veränderungen verlieren.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine globale Digitalisierungsstrategie aus?

Die globale Digitalisierungsstrategie hat die digitale Vernetzung von international agierenden Unternehmen zum Ziel. Dafür bedarf es einer Vision, die alle betroffenen Unternehmen einbindet, um gemeinsam das Potenzial zu erschließen. Das erfordert ein funktionierendes Netzwerk, Transparenz, Offenheit und die Bereitschaft Informationen zu teilen.

Es muss hinterfragt werden, welche technischen Stärken die Unternehmen haben und wie diese für die Digitalisierung genutzt werden können. Oft neigen Unternehmen dazu, die Digitalisierung aus der Zentrale heraus auszurollen. Wichtiger wäre es, international bereits vorhandene Lösungen darauf zu prüfen, ob sie global genutzt werden können. So können in mehreren Ländern gleichzeitig (oder entlang einer Roadmap) Projekte gestartet werden, die das internationale Know-how berücksichtigen und Ressourcen optimal einsetzen.

Parallel dazu gilt es, das technische Know-how der Mitarbeiter zu verbessern. Das fördert nicht nur die technische Effizienz am Arbeitsplatz. Je mehr technische Erfahrungen ein Mitarbeiter hat, umso leichter fällt es ihm, sich mit neuen Systemen auseinanderzusetzen.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine unternehmerische, betriebswirtschaftlich tragfähige Digitalisierungsstrategie aus? An was müssen Unternehmen unbedingt denken?

Die Digitalstrategie muss da ansetzen, wo sie großen Nutzen bringt und weitere digitale Entwicklungen anstößt. Basis hierfür ist eine klare Architekturplanung der Systemlandschaft, die effiziente Nutzung der Systeme und nicht zuletzt Prozessanalysen, die aufdecken, wie die Arbeitsschritte zusammenhängen und welches digitale Potenzial welchen Benefit liefert.

Nicht selten passiert es, dass Unternehmen mit dem E-Commerce starten wollen und übersehen, dass hierfür ein Großteil der Produkt- und Kundeninformationen sowie der Backendprozesse bereits digitalisiert sein muss. Fehlen diese Grundlagen, entstehen unerwartete Kosten, die das Projekt scheitern lassen.

Fast jedes Unternehmen hat Mitarbeiter mit einem hohen Drang zur Digitalisierung. Doch oft werden sie sich selbst überlassen. Die Folge sind Investitionen in Techniken, die nicht genutzt werden. Mit der Einbindung dieser Mitarbeiter in die digitale Weiterentwicklung des Unternehmens können diese Potenziale gewinnbringend eingesetzt werden.

Wie sollten Unternehmen ihre Verantwortung definieren, wenn Maschinen und Menschen in ihren Arbeitsprozessen immer mehr verschmelzen?

Bei digitalen Prozessen besteht die Gefahr, dass Mitarbeiter immer stärker nach dem Takt der Systeme arbeiten müssen oder sich durch die Technologie überfordert fühlen. Das kann zu Unzufriedenheit und Erkrankungen führen.

Arbeitgeber müssen ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem die Mitarbeiter sich weiterhin selbst organisieren und Fähigkeiten entwickeln können, um sich gegebenenfalls neues Anwendungswissen anzueignen – zum Beispiel über Intranets mit Wissensdatenbanken und die Möglichkeit, das Internet als Informationsquelle zu nutzen. Aber auch der Austausch mit anderen Kollegen muss gefördert werden. Das bringt neue Sichtweisen und unterstützt die Lösungsfindung.

Welche Rolle sollte der Staat / die Politik bei der Digitalisierung übernehmen?

Der Staat muss sicherstellen, dass alle Regionen mit leistungsstarken Strom- und Datennetzen ausgestattet sind und der Cyberkriminalität entgegengewirkt wird. Mit eigenen Leistungen und offener Kommunikation kann er als Treiber digitaler Lösungen auftreten.

Außerdem muss der berufliche Nachwuchs stärker im Umgang mit Technologien geschult werden. Das Unterrichtsfach Informatik ist immer noch kein Standard in Schulen, obwohl nahezu kein Beruf mehr ohne Technik möglich wäre. Ergänzend sollte der Staat die Angst vor der Technik nehmen. Viel zu oft heben Institutionen noch die Gefahren hervor, anstatt die Sicherheit zu vermitteln, diese Gefahren in den Griff zu bekommen.

Wie können die Menschen / die Verbraucher von der Digitalisierung profitieren?

Der Nutzen der Verbraucher ist vielseitig. Sie profitieren direkt als Arbeitnehmer von Erleichterungen auf der Arbeit, wenn die künstliche Intelligenz stupide Arbeit übernimmt und die Bedienung der Geräte immer einfacher wird.

Im Privatleben profitieren sie von mehr Unabhängigkeit und Komfort. Schon heute sind Autos dank der Technologie deutlich sicherer, der Einkauf ist auch nach Ladenschluss möglich und die Kommunikation zu jeder Zeit und von jedem Ort ist selbstverständlich. Mit einem höheren Grad der Technologisierung werden Produkte leistungsfähiger, intelligenter und individueller.

Wie sehen Sie die digitale Welt in zehn Jahren? Ihre Zukunftsvision!

Die digitale Welt wird sich noch mehr in die persönlichen und unternehmerischen Abläufe integrieren – mit Technologien, die es teilweise heute schon gibt. Bei vielen Lösungen spielen Service und Umweltschutz eine große Rolle, da Wirtschaftlichkeit, Gesundheit und der persönliche Vorteil auch in Zukunft dominieren werden.

Autonome, elektrische Kabinenroller werden Busse und Taxen verdrängen. Sie reduzieren nicht nur die Luftverschmutzung, sondern entsprechen dem Bedürfnis des Stadtmenschen, sich unabhängig bewegen zu können. In privaten Haushalten wird es verstärkt Roboter für Unterhaltung, Hol- und Bringdienste geben. Letzteres wird sich auch im Handwerk durchsetzen, wo es schon heute selbstfahrende Schubkarren, Bewässerungsmaschinen und Roboter gibt. In der Landwirtschaft wird es – auch durch Klimawandel und Umweltschutz – vermehrt zur intelligenten Düngung und Bewässerung kommen.

Eine Erfindung von Epson wird die Papierbranche revolutionieren: Epson entwickelt eine Recyclingmaschine, die Altpapier direkt in neues Papier umwandelt. Davon profitieren nicht nur Unternehmen. Auch lokale Recycler können das Papier direkt verwerten und wiederverkaufen. Eine solche Wiederverwertung wird es nicht nur im Papierbereich geben.

Unternehmen werden verstärkt digital agieren: von Robotern für Hol- und Bringdienste bis zum automatisierten, innerbetrieblichen Materialfluss. Wissensdatenbanken werden den Einsatz von KIs fördern und Entscheidungen vorbereiten. In der Medizin werden immer mehr Körper-Chips und Minigeräte zum Einsatz kommen. Gesellschaft, Politik und Justiz werden sich in Folge immer mehr mit ethischen Fragen auseinandersetzen müssen. So wirft zum Beispiel die Verlängerung des Lebens durch den Einsatz von Chips neue Fragen auf: Wer darf entscheiden, wann sie abgeschaltet werden? Manche technischen Neuerungen werden auch in zehn Jahren in der Ethik ihre Grenzen finden.

Frau Vier, vielen herzlichen Dank für Ihre interessanten Antworten und spannenden Einblicke!

Das Interview mit Bettina Vier führte Oliver Foitzik, Herausgeber des Wirtschafts- und Mittelstandsmagazins AGITANO sowie Geschäftsführer der FOMACO GmbH.

Anmerkung der Redaktion: Lesen Sie auch die weiteren Teile der Interviewreihe Digital Insights.

Teil (2): Basis für die Digitalisierung ist eine hohe Transparenz und gute Qualität von Daten – Interview mit Eberhard Müller

Teil (3): Es braucht eine vermittelbare Zukunftsstrategie, die zusammen mit Unternehmen und Individuen umgesetzt wird – Interview mit Elmar R. Gorich

Teil (4): Digitalisierung ist als ganzheitlicher Prozess zu verstehen und muss den Menschen mitdenken – Interview mit Ludger Wiedemeier

Teil (5): Unzureichende IT-Sicherheit kann in Zukunft für viele Unternehmen existenzbedrohend sein – Interview mit Mathias Hess

Teil (6): Mit dem klassischen, patriarchischen Führungsstil wird man bei der Digitalisierung nicht weit kommen – Interview mit Matthias Koppe

Teil (7): Die Positionierung am Markt ist letztlich immer der wichtigste Faktor und am besten durch Produkt- und Prozessinnovationen zu beeinflussen – Interview mit Uwe Seidel

Über Bettina Vier

Diplom-Betriebswirtin und E-Commerce-Manangerin Bettina Vier.
Die Diplom-Betriebswirtin Bettina Vier ist als Interim Managerin tätig und an zahlreichen branchenübergreifenden Projekten beteiligt. (Bild: © Bettina Vier / BestPractice Verlag)

Bettina Vier ist Diplom-Volkswirtin und kam bereits in den neunziger Jahren zum Thema Websites, Portale und E-Commerce. Vor allem die Mischung aus Kreativität und logischen Prozessen begeistert sie bis heute und hat dazu beigetragen, dass sie immer tiefer in die Materie Digitalisierung eingestiegen ist und sich nicht allein auf E-Commerce beschränkt. Sie ist Top-Profi, wenn es um digitalen Handel und Wandel geht. Mehr als zehn Jahre arbeitete sie bei Banken und Versicherungen, dann entschied sie sich für eine Karriere als Interim Managerin.
Die Nachfrage ist groß, denn selbst heute, nach mehr als zwanzig Jahren Internet, tun sich viele Unternehmen noch immer schwer, diese Technologie für die eigenen Zwecke gewinnbringend zu nutzen. Hier setzt Bettina Vier an. Branchenübergreifend wird sie seit vielen Jahren als E-Commerce-Managerin in Unternehmen geholt. Doch dabei bleibt es meist nicht. Nicht selten stößt sie weitere Digitalisierungsprojekte an oder unterstützt laufende Projekte, da das Umfeld für den E-Commerce nicht gegeben ist. Sie berät strategisch und umfassend und macht den digitalen Wandel konkret. Oft ist dabei der Change-Anteil in Projekten genauso umfangreich wie das eigentliche Projekt.

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